Zur musikalischen Technik in HipHop und Techno

Diedrich Diederichsen



-> Der Text beruht auf einem Vortrag am 13.6.97 in der Akademie der Künste (Berlin) im Rahmen der Vortragsreihe "Musik im Dialog", organisiert von der "Berliner Gesellschaft für Neue Musik". Die eingeschobenen Künstler- und Tonträgertitel sind die dabei eingespielten Tracks.

Rockers HiFi: UNEASY SKANKING (1996)

I. Pop-Musik als historisches Kontinuum: Was ist Pop-Musik? Wie kann man sinnvoll von Pop-Musik sprechen und im Unterschied zu was? Diese Frage wäre zu beantworten, bevor man auf die wesentlichen Kompositions- und Bauprinzipien zweier neuerer Versionen, zweier Fälle von Pop-Musik kommt, über die die Veranstalter dieser Reihe etwas von mir wissen wollen.

Mein Vorschlag, Pop-Musik zu definieren weicht ein wenig von den gängigen Modellen ab, umfaßt aber genau jenen Bereich, der normalerweise gemeint ist, wenn unreflektiert und alltäglich über Pop-Musik gesprochen wird.

Bevor wir das tun, etwas Musik, ein Instrumentaltrack, der Anfang jener Epoche steht, mit der für mich Pop-Musik beginnt, die Kunst der Zusammenstellung bedeutender Klänge in einem einfach oder traditionell oder repetitiv strukturierten Rahmen.

Joe Meek/ The Tornados: TELSTAR (1962)

Kurz ein paar herkömmliche Definitionen:

1. Pop-Musik ist die Gesamtheit aller populären Musiken, die sich die ganze Neuzeit und Moderne hindurch durch gesellschaftlichen Rang, Aneignungs- und Gebrauchsstile und Legitimität einerseits, also soziologisch, durch geringe Komplexität, stark betonte und einfache Rhythmik, also musikalisch andererseits unterscheiden läßt.

2. Eine einschränkende Definition würde Pop-Musik von allen populären Musiken vor allem durch besondere historische Einschnitte abgrenzen wollen. Diese können entweder die modernen, mit Massenmedien wie Radio und Kino ausgestatten Massenkulturen des Westens seit dem ersten Weltkrieg bilden oder dann viel später die erst zwischen den mittleren 50ern und den späten 60ern nach und nach selbständig gewordenen Schallplattenabteilungen der großen Unterhaltungskonzerne und der Beginn, daß diese eigenständig wirtschaftliche Strategien großen Stils verfolgen.

3. Eine weitere Definition knüpft den Beginn von Pop-Musik an die Entstehung von massenmedial verbreiteten und kommerziell verwerteten Jugendkulturen, an die Entdeckung der Jugendlichen als Konsumenten in den 50er Jahren.

4. Oder man macht die Einbeziehung afro-amerikanischer Musik zum Kriterium und definiert Pop-Musik als die vor allem anglo-amerikanische, für ein nicht oder nicht nur schwarzes Publikum konzipierte Musik, die auf wesentliche Bestandteile der vorher segregierten und so genannten schwarzen "Race"-Musik zurückgreift.

5. Schließlich könnte man Pop-Musik einfach als populäre Musik mit elektronischen oder elektronisch verstärkten Inkrementen definieren und den Übergang etwa von elektronisch verstärkten zu rein elektronischen, die um den Übergang von den 80er zu den 90ern zum entscheidenden Kriterium der Neuheit der aktuellen Pop-Musik machen. Tatsächlich ist die Musik, von deren ästhetischen und technischen Prinzipien ich im folgenden reden werde, im wesentlichen rein auf elektronischen Instrumenten entstanden.

THE BLUE MEN: Bublight (1960)

Gegen und mit diesen Definitionen möchte ich ein anderes Modell vorschlagen, das meiner Ansicht nach alle wesentliche Unterschiede und ihre jeweiligen Funktionen so verknüpft, daß es sinnvoll alles Besondere und Neue an Pop-Musik diskutierbar macht.

1.) Pop-Musik ist immer referentiell. Nur ein Publikum, das diese Referentialität nachvollziehen kann, versteht sie. Anders als bei z.B. klassischer europäischer Musik läßt sich nicht allein aus bestimmten, aus der Musik erschließbaren Regeln auf die Regeln anderer Stücke schließen, weil sich jederzeit eine neue Form und ein neuer Inhalt von Referentialität einstellen kann, ohne daß die musikalische Form gestört oder geändert werden muß.

2.) Pop-Musik ist immer synkretistisch, verschiedene Formen der Signifikation laufen nebeneinanderher, Text, konventionelle Songform, Instrumentierung etc. können verschiedene Referenten haben und daher auch unterschiedliche Publiken zulassen.

3.) Die jeweils wichtigste und exklusivste Bedeutungsproduktion geschieht durch ein technisches Geräusch oder einen Effekt, der die Form eines technischen Geräusches annimmt. Dabei handelt es sich immer um einen Effekt, der sowohl technische Neuheit wie einen ganz bestimmten sozialen oder kulturellen Stamm kommuniziert. Es muß sich dabei nicht um tatsächlich technische Neuheit handeln, nicht einmal um einen technisch hergestelltes Geräusch oder einen Sound-Effect, sondern nur etwas, das wie ein Sound-Effect funktioniert. Dafür muß er dem, was die jeweilige Musik musikalisch strukturiert, seltsam äußerlich bleiben, singulär und isolierbar wahrnehmbar. Wenn er eines Tages integriert ist, in einen auch musikalisch definierbaren Stil, hat er seine totemistische Funktion verloren.

Todd Rundgren: GOOD VIBRATIONS (1976)

Natürlich expandiert Pop-Musik ständig auch musikalisch in Richtungen, wo sie sich nur noch musikalisch über sich selbst verständigt. Von der ersten Welle des Progressive Rock bis zu den heutigen elektronischen Experimenten. Wichtig ist aber dafür, daß bestimmte Sound-Effekte, die durch eine totemistische Funktion hindurchgegangen sind, diese nie ganz loswerden. Eine 20-minütige Cream-Improvisation von 1969 fühlte sich bekanntermaßen eher den entsprechenden Kollektiv-Improvisationen des Free Jazz verpflichtet als irgendwelchen Pop-Songs und deren jugendkultureller Referentialität. Doch weil man Wahwah-Effekte verwendete, schloß man ausdrücklich bestimmte Pop-Fans ein oder schleppte zumindest die totemistische Funktion, die der Wahwah-Effekt auf der eigenen zwei Jahre älteren Pop-Single "White Room" hatte, mit in den neuen Kontext mit ein. Dasselbe gilt, wenn abstrakte elektronische Experimente mit denselben Sounds arbeiten oder auf denselben Labels erscheinen wie Tanz-orientierte Techno-Produktionen, also in soundmäßige oder sozialer Nachbarschaft. Überall, wo Pop-Musik die Barriere von referentieller zu nichtreferentieller, "reiner" Musik überschreitet, nimmt sie zunächst ihr soziales totemistisches Gepäck in Gestalt bestimmter codifizierter Sounds mit. So umschließt Pop nach meiner Definition immer noch einen Raum, zu dem auch die von den ursprünglichen Formen entwickelten "Kunstmusiken", die in einer Beziehung zu einer präzise ablesbaren sozialen Spur stehen, untergebracht sind.

Kraftwerk: STROM (1972)

4.) Schließlich ist Pop-Musik definiert als eine Form, die niemals durch Musik und Text allein, sondern durch öffentliches Auftreten, Aussehen, Aufmachung der Akteure, Fotos, Videos, Filme, Bühnenbilder, Statements und Interviews mitbestimmt ist. Das mag unter den Bedingungen der aktuellen Mediensituation für andere Künste genauso gelten, der Unterschied ist aber nicht nur, daß Pop-Musik die erste war, die massiv unter diesen Bedingungen arbeitet, sie bleibt auch die einzige, die nicht zwischen Beiwerk und Sache selbst unterscheidet, die nicht zwischen dem Status von Äußerungen auf der einen und der anderen Ebene prinzipiell unterscheidet, sondern in Songtexten Interview-Statements aufgreift, in der Wahl des Sound-Designs eine soziale oder politische Orientierung kenntlich macht. Einerseits sind die Pop-Bedeutungen geheim, andererseits gibt es immer eine Fülle von Zeichen, die einem helfen, wenn man die Musik allein nicht zu lesen versteht. Im Lichte dieser grundsätzlichen Überlegungen kann man historisch zwei Phasen unterscheiden: die noch vom Song strukturierte, und die Phase, die uns heute interessieren soll, die Phase nach dem Song. Phänomene wie HipHop und Techno gehören in die Zeit nach dem Song und stellen global gesprochen die beiden wesentlichen Tendenzen der Post-Song-Pop-Musik dar. Doch bevor ich näher darauf eingehe, noch ein paar Worte zur Song-Zeit. Wenn ich gesagt habe, daß das Wesentliche an der Pop-Musik die technogenen Geräusche sind, deren Codierung als neu und Eigentum einer bestimmten Gruppe, dann meine ich damit nur in einigen Extremfällen, daß dieses Geräusch dem Rest des musikalischen Ablaufs total äußerlich ist. So wären zum Beispiel die lange Zeit wichtigsten Quellen für solche Geräusche - elektrische Gitarren und die dazugehörigen Effektgeräte einerseits, elektronische Keyboards andererseits - nicht als externer Effekt zu haben gewesen. Sie haben immer auch einen Einfluß auf das Songwriting gehabt. Die bloße Entscheidung, einen Song von einem bestimmten Instrument oder dazugehörige Effekt dominieren zu lassen, fand statt in einem Geflecht von immer schon fertigen Genres, Sounds, Studiostilen, die immer auch ein bestimmtes Songwriting verlangten. Selbst die Illusion, als freie und selbstbestimmte Selbstverwirklicher zu arbeiten, die in den Tagen des Progressive Rock kurz aufkam, war natürlich Genre- und Sound-gebunden und wirklich interessante Pop-Musik hat sich immer auf ihr Vorbestimmt- und Verwickeltsein durch Codes und Genres eingelassen und es zuweilen thematisiert.

The Rolling Stones: SHE`S A RAINBOW (1967)

II. Für die Zeit nach dem Song kann man grundsätzlich zwei Entwicklungsstränge ausmachen. Einmal einen, bei dem der Sound-Effect sozusagen zu sich selbst kommt. Das bedeutende Geräusch oder der verweisende Klang wird solange wiederholt und isoliert und auch manipuliert, daß er nur noch auf sich selbst verweist. Wobei das letztere nur mit Einschränkungen gilt. Die Vorgeschichte zu dieser Entwicklung ist in der Codierung bestimmter Sounds - etwa Feedback - zu suchen, die als Höhepunkt, Erlösung, Finale fungierten und entsprechend das Begehren der Hörer auf sich zogen. Seit den mittleren 80ern läßt sich verfolgen, daß diese Sounds aus ihren dramaturgischen Zusammenhängen herausgelöst und als Sache selbst präsentiert werden. Endlose Feedback- oder Synthesizer Flächen machten den Weg frei zu einem fetischistischen Umgang mit dem Sound um seiner selbst, also wegen ihm zugeschriebener oder tatsächlicher euphorisierender oder physischer Eigenschaften, nicht wegen einer sozialen Bedeutung. Diese Entwicklung ist auch eine der Grundlagen für die elektronische Musik der Post-Techno-Generation. Der fetischistisch genossene Sound hat allerdings immer noch da eine soziale Funktion, wo er von unserer Musik und nicht-unserer Musik nach wie vor zuverlässig unterscheidet.

The Melvins: GOGGLES (1992)

Bei dem anderen Strang handelt es sich um all die Musik, die mit Samples arbeitet, die erkannt werden sollen, also die in Zusammenhang gebracht werden sollen mit Geschichte, Bedeutungen, Positionen, Parteilichkeiten etc. Das wäre in erster Linie HipHop. Seit ein paar Jahren sind in zeitgenössischem Dub und Drum and Bass Konvergenzen beider Richtungen zu beobachten. Beiden ist allerdings gemeinsam, daß sie sich auf repetitive Strukturen beziehen, auf den oder einen Groove, der als strukturierendes Element den Song abgelöst hat. In erster Linie entspricht das der Verlagerung der Musikkonsumstätte und einer Veränderung der Aneignungsstile stark über Musik-Konsum definierter Jugendkulturen und anderer Sub-Kulturen. Den Song, die Melodie, die man schon mal gehört hat und jetzt wiedererkennt, hörte man zu Hause. Sie stellte eine Verbindung her aus mehreren Welten, wo sie einem wieder begegnet und wurde so ein Baustein individueller Geschichten. Der Groove gehört allen und ist überall, man kann sich überall und jederzeit ein- und wiederausklinken. Ein spezifischer Groove steht darüber hinaus wie ein spezifischer Sound für eine Gemeinschaft. Das mit ihm verbundene musikalische Erlebnis ist öffentlicher, Tanzveranstaltung, Event etc. und mein Wiedererkennen bezieht sich nicht auf einen anderen Ort, wo ich dasselbe Stück schon mal gehört habe, sondern auf den Moment vor einem Takt, wo ich dasselbe schon mal gehört habe. Natürlich sind repetitive (Groove-) Strukturen auch schon in Songstrukturen präsent gewesen und umgekehrt bestehen selbst die repetitivsten, der Bearbeitung durch den DJ gewidmeten Tracks nicht nur aus einem sich in einem Rhythmus wiederholenden Sound, sondern in mehreren. Neben diesen beiden Strängen - bedeutende Sampleverwendung und nichtbedeutende, meist auch auf Samples und Loops aufbauende, ich nenne es mal "dionysischen" oder "fetischistischen" Geräuschgebrauchs - kann man drei Makro-Milieus unterscheiden, in denen die unterschiedlichen neueren Pop-Musik-Entwicklungen vor allem stattfanden, und anhand dieser Milieu möchte ich auch die Entwicklung der unterschiedlichen Materialbehandlungen und -Organisationen herleiten. Das wäre zum einem das afro-karibische Reggae-Milieu mit seinem Ursprung Jamaika, vor allem aber seinem auf lange Sicht wichtiger gewordenen Epizentrum London; zum zweiten die afro-amerikanischen HipHop-Szenen vor allem in Los Angeles und New York und schließlich die global-westliche, nicht an einzelnen Orten lokalisierbare elektronische Post-Techno-Szene, die man allerdings sozial eher unter Mittelschichtskindern situieren kann und die aber auch Überschneidungen mit den anderen bildet.

Zunächst zu Jamaika. Die erste neuartige Instrumentalmusik der Pop-Geschichte war Dub. Dub ist mit seiner Fülle an dekonstruktiven und Mix-Techniken nach wie vor erkennbarer Ahne vieler Praktiken in alle erwähnten musikalischen Milieus. In den späten 60er Jahren veränderte das Vierspurstudio die Produktionsbedingungen der Rockmusik nachhaltig. Klänge konnte jetzt sehr viel distanzierter angesehen und manipuliert werden. Viele der berühmten Pop-Ideen, etwa John Lennons Einfall, in einem Song im Hintergrund Tierstimmen sich abwechseln zu lassen, die jeweils von Tieren stammen sollten, die einander im in der Natur fressen, wäre ohne die neue Perspektive auf Musik, die das Vierspurstudio ermöglicht, nicht denkbar gewesen. Mit geringfügiger Verspätung landete das Vierspurstudio auch in Jamaika, wurde dort aber zunächst einer anderen Verwendung zugeführt. Zu den Stars der jamaikanischen Reggae-Kultur gehörten sogenannte DJs - das waren keine Plattenaufleger, die hießen dort Selector -, sondern eine Art Moderatoren, die bei Parties zu den Platten redeten, die Texte kommentierten, erweiterten, reimten und improvisierten: man nannte das Toasten. Diese Toaster wurden bald auch auf Schallplatte präsentiert, wozu man sie zu den Reggae-Hits des Tages toasten ließ. Die veränderte man aber im Vierspurstudio. Man filterte teilweise die Vocals heraus oder versuchte andere Instrumente vorübergehend auszublenden. Später entstanden die Platten von vornherein in verschiedenen Versionen, die man auch "Versions" nannte. Diese für Toaster bestimmte und veränderte Versions wurden nun im Studio von Produzenten und Engineers auch für Instrumentalversionen nochmal Mithilfe der Studiotechnik neu bearbeitet. Dabei waren vor allem Echokammern, Bandecho, der Mute-Knopf die beliebtesten Hilfsmittel. Hinzu kamen neu eingespielte Soundeffekte. Diese Form der Instrumentalmusik, die aus dem additiv gedachten Vier-Spur-Studio eine Subtraktionsmaschine machte und bei der es um Raumeffekte und auch Effekte der Leere und des Weglassens ging, nannte man Dub. Hören wir ein Beispiel mit dem Erfinder des Dub. King Tubby bearbeitet "The Barber Feel It" von Jah Stitch und Dr. Alimantado neu zu.

King Tubby: THE POOR BARBER (1973)

Im Laufe der 70er verlagerte Dub sein Zentrum von Jamaika nach London. Dort machte die Musik viele Fusionen durch und wir werden ihren Techniken in veränderten Konstellationen bald nochmal begegnen. Ebenfalls in den frühen 70ern begann die repetitive Funk-Musik den songhaften Soul in einigen afroamerikanischen Subkulturen der USA zu verdrängen. Funk-Stücke waren nicht nur repetitiv, sondern lang und von wenigen Welthits wie James Browns "Sex Machine" oder "Aināt it funky now?" nicht kommerziell erfolgreich genug, die Grenzen des segregierten US-Musikgeschäfts zu überschreiten. In den späten 70ern waren daher kaum noch Funk-Bands im Geschäft, die nicht zurück zur Songform konvertiert wären. In dieser Situation entwickelten DJs - in diesem Falle Plattenaufleger - die Technik, durch das Benutzen zweier identischer Platten und zwei Plattenspielern die funky Passagen von bald wieder zur Songform zurückehrenden Platten zu verlängern. Entgegen des Gründungsmythos des HipHop von irgendwie kreativ durchgeknallt Platten hinundherdrehenden Ghettokids, ist es wichtig, auf diese ausgesprochen funktionalen Ursachen, die gleichwohl tatsächlich zu unglaublichen Virtuositätsleistungen am Plattenspieler führten, hinzuweisen. Beliebt waren neben funky Passagen sogenannte Breaks, also Stellen bei denen man zwei Takte lang, nur das Schlagzeug oder seltener andere Instrumente hören konnte, die man nun zu langen Passagen dehnte. Mit anderen Worten, die frühen HipHop-DJs bastelten Loops mit der Hand und live. Seit 1985 benutzen sie dafür zusehends häufiger das Sampling-Verfahren. AKAI hatte einen billigen, sozusagen Volkssampler auf den Markt gebracht. Eigentlich dazu gedacht, Musiker zu sparen und trotzdem authentischen Instrumentalklang zu ermöglichen - man konnte einen Originalsaxophonton irgendwo heruntersampeln und dann von einem MIDI-Keyboard quasi errechnen lassen und abrufen wie der Ton in der Höhen klingt, in der man ihn braucht - war dieses Verfahren in der HipHop-Szene wie vorher schon das Vierspurstudio im Dub gegen seine Gebrauchsanweisung eingesetzt worden. Im HipHop ging es nicht darum, zu kaschieren, daß fremde Platten im Spiel waren, sondern es ging gerade darum, den Bezug zur afroamerikanischen Musikgeschichte deutlich zu machen, im Sinne auch eines in jener Zeit wiedererwachten sogenannten cultural nationalism in der schwarzen Community in den USA. Im Gegenteil: ein entlegenes, aber funktionierendes Sample steigerte das Prestige und die Aussagekraft eines HipHop-Tracks und konnte im Verhältnis zum Rap dessen Bedeutungen modifizieren, stärken oder konterkarieren. Hier nun ein paar Beispiele im Umgang mit Samples im HipHop:

Terminator X: FROM THE VALLEY OF THE JEEP BEATS (1992)

Isley Brothers: FOOTSTEPS IN THE DARK (1975)

Ice Cube: IT WAS A GOOD DAY (1992)

A Tribe Called Quest: - VERSCHIEDENE BEISPIELE aus LOW END THEORY

Freestyle Fellowship: - VERSCHIEDENES

Wu Tang Clan: Intro zur 97er Doppel-CD

Wir machen jetzt einen Sprung nach London in die frühen 90er. Ich überspringe die Anfänge von Techno und House. Nur soviel: beides sind von den soziale Milieus höchst unterschiedliche elektronische, weitgehend instrumentale Tanzmusiken, deren oberflächlichster formaler Unterschied vielleicht der ist, daß House swingt, Techno nicht. Beide sind nicht funky. Im Gegensatz zum verbreiteten Eindruck von Techno als der endlos monoton wummernden Musik der Viervierteltakte und der Love-Paraden hat sich sehr schnell, vor allem in London in den frühen 90ern eine unübersichtliche Vielfalt von elektronischen Pop-Musiken entwickelt, die mit Techno allenfalls die Rezeptionsform - lange Nächte, klandestine Veranstaltungen, gemeinsam hatten, aber aus demselben Milieu hervorgegangen sind. In dieser Situation gab es Crossover-Entwicklungen in alle möglichen Richtungen, am interessantesten sind sicherlich die Überschneidungen mit den beiden anderen Strängen Dub und HipHop. In diesem, allerdings selten vollständigen Beispiel aus dem Jahre 1991 finden gleich fünf oder sechs Genres gleichzeitig statt. Vom Milieu her ist die Gruppe um den Rebel MC einerseits in der Szene der jamaikanischstämmigen Jugendkultur angesiedelt, die aber auch gerade US-amerikanischen HipHop rezipieren. Es gibt hier also einen Rap im US-amerikanischen Stil, der aber übergeht in jamaikanisches Toasting in seiner 90er Version, schneller und aufgeregter als die Exemplare der 70er. Dann gibt es Piep und Bliep-Geräusche, die gerade damals in der britischen Techno-Szene, einer keineswegs nur weißen Techno-Szene wie in Deutschland, aber auch nicht exklusivschwarzen Szene wie beim britischen Dub, in Mode sind. Dann gibt es ein gesprochenes Intro im Stile der Einleitungen und gesprochene Unterbrechungen wie sie gerade im britischen Dub der 70er gang und gäbe waren. Dieses Intro sagt aber, daß die nun folgenden Klänge - dese sounds are no dibi dibi sound - keine nicht ernstzunehmenden Kindersounds seien, sondern daß - dese are de wickedest sound - die gemeinsten, also ernstzunehmendsten Klänge. Damit werden die eigentlich aus einer fetischistischen Ecke stammenden Bliep-Sounds nachträglich aus einer afro-diasporischen und der Semantizität von HipHop verpflichteten Sicht geadelt bzw. akzeptiert und zu bedeutenden erklärt. Außerdem hören wir eine Gesangsspur, die in der Lovers Rock genannten Tradition von Reggae steht und damit wie die auf vergangene Epochen schwarzer Musik in den USA verweisenden Samples des US-HipHop auf eine spezifisch jamaikanische Tradition verweist. Und außerdem hören wir einen Breakbeat, der das Stück durchzieht und auf die früheste Form dessen verweist, was später als Jungle oder Drum and Bass bekannt werden sollte. Dazu gleich mehr.

REBEL MC: The Wickedest Sound (1991)

Die Schicht mit den Breakbeats war bei diesem Track noch relativ versteckt unter einem Haufen anderer, ihrerseits schon genrefizierten Belegen. Genau daraus aber entstand eine der entscheidenden aktuellen Entwicklungen afro-diasporischer Musik. Während die Rhythmus-Tracks von HipHop-Stücken entweder aus geloopten Drum-Breaks oder aus von der Gitarre gespielten Funk-Rhythmen bestand, handelte es sich bei diesem Rhythmus um geloopte und beschleunigte Reggae-Schlagzeug-Intros, die auf Tempo gebracht und dann durch einen Baß oder ein anderes Loop mit einem relativ geraden Beat konfrontiert und so trotz enormer Vertrackt- und Synkopiertheit wieder tanzbar gemacht werden. Diese Musik, die man 95 Jungle und seit letztem Jahr Drum and Bass nennt, ist einerseits eine im Elektronik und Techno-Kontext entstandene, weitgehend instrumentale Musik, deren hauptsächlich britische Protagonisten sich aber dezidiert afro-diasporisch geben. Die kaum noch ihre Herkunft als Reggae-Breakbeats verratenden rhythmischen Strukturen werden aber von einem großen Teil dieser Szene immer noch verstanden als Identitäten stiftende Verweise auf eine andere Herkunft und oder primäre Verstreuung. Zum anderen verschmelzen sie mit dem fetischistischen Gebrauch des Sound, wie er bei Teilen der Techno-Bewegung eine Rolle spielt. Lang stehende Synthesizerflächen und die Titel der Tracks und die eingesampelten Rufe fungieren darüber hinaus als Referenzen auf Verlorenheitsvorstellungen, im äußeren wie im inneren Raum: allein auf der Metalheadz-Compilation vom letzten Jahr gibt es Titel wie "The Unofficial Ghost", "V.I.P.Riders Ghost". "Psychosis", "Far Away", "The Nocturnal" und so weiter. Man kann aber auch diese Referenzen nicht als expressive und persönliche lesen, sondern auch, und da steht Drum and Bass auch in einer Reggae-Tradition, als Verweise auf Science-Fiction- und Fantasy-Filme und -Comics. Interessant ist aber, daß in diesem Zusammenhang immer häufiger von afrobritischen Künstlern und Theoretikern der Zusammenhang zwischen der aktuellen Version der Black Diaspora und der Weltraumwelt der aktuellen Pop- und Sci-Fi-Kultur betont wird.

Lemon D: IN MY LIFE (1996)

Dillinja: THE ANGELS FELL (1996)

Alle neueren Beispiele, die wir gehört haben, entstehen am Computer. Im HipHop-Falle werden Samples von erkennbaren Platten, im Falle Techno und House werden Sounds aus den einschlägigen Sound-Bibliotheken digitaler Keyboards, aber durchaus auch Samples, dann aber nicht in der Absicht sie erkennbar zu machen, jeweils mit einem Arrangierprogramm, meistens wird Cubase Audio verwendet in einem Arrangement-Format, das sich wie ein virtuelles sechzehn Spur-Studio gibt, eingetragen. Man nimmt etwa einen Breakbeat und loopt ihn rund - dafür braucht man ein anderes Programm, das die einzelnen Samples definiert. Diesen "rund" geloopten Sample definiert man als etwa Track 1 und legt fest, in welchen Takten er hörbar sein soll: also sagen wir 1-21, dann steht vielleicht ein Baß kurz allein und in Takt 25 setzen wir wieder ein. Cubase und seine Verwandten haben eine fast schon terroristische Vorliebe für 4/4 Takte und sie - man muß mindestens sagen: ermutigen - den Home-Arrangeur, seine einzelnen Spuren in Zweier-Potenzen laufen zu lassen. Daher so oft das ablenkende Gefühl beim Tanzen, immer bis sechzehn zählen zu müssen, weil meistens dann ein neues Ereignis auftaucht oder ein gerade stattfindendes verschwinden wird. Bei Drum and Bass wird nicht nur eine relativ hohe rhythmische Komplexität gefahren, es bleibt auch offen oder ambivalent, ob die Sounds auf Geschichte verweisen oder sich dem fetischistischen Gebrauch annähern oder tatsächlich beides versöhnen. Etwa in dem Sinne: der konkrete Verweis auf Geschichte wie bei HipHop ist nicht mehr nötig, aber das ständige Wiedererkennen im repetitiven Hören soll nicht einfach irgendwas wiederkennen, sondern schon eine Struktur, die für Diasporizität in einem allgemeinen Sinne steht. In Teilen der Drum and Bass-Welt Großbritanniens, aber auch in der weniger übersichtlichen New Yorker Post-Techno-Welt hat sich aber auch ein deutlicheres Bezugnehmen auf Dub und die mit ihm verbundene Tradition des Rastafarianismus in letzter Zeit abgezeichnet, wenn auch weniger als übernommenes Glaubenssystem, als als Zeichen für eine synkretistische, gegen das System von Babylon gerichtete minoritäre Identität, mit der im übrigen auch weiße Jungs gerne spielen. Im folgenden Beispiel aus New York kommt alles mögliche zusammen: die tiefen, oft echohaften Sounds alten Dubs, ein angedeuteter Breakbeat, ein Rastafari-Ruf, eine dekontextualisierte E-Gitarre, ein Baß-Riddim, wie er im neuen elektronische Reggae in Jamaika selbst im Einsatz ist. Und verschiedene Referenzen auf als Weltraum und SciFi codierte Geräusche.

Alien Mind: HAPPINESS PART 2 (1996)

Noch zwei weitere Beispiele, die das britische Produzenten- und Musikerteam Rockers HiFi bearbeitet hat. Zum einen eine neue Version eines Stückes des 1982 ermordeten Altmeisters Prince Far I - Kollaborationen mit Toten sind ja spätestens seit Natalie Coles inzestuös aufgeladenen Duetten mit ihrem Vater eine Selbstverständlichkeit. Prince Far I war einer der jamaikanischen Dub-Väter, der in den späten 70ern mit experimentellen Musikern in Großbritannien zusammenarbeitete und viel Studio-Know-How von Insel zu Insel schaffte, außerdem aber auch selber sprach, toastete und Intros zum besten gab. Auf dieser Version hören wir erst den Rockers-HiFi-Toaster Farda P, wie er den tiefen, bedrohlichen auch Patriarchen-haften Ton von Prince Far I imitiert, und dann den echten Prince Far I:

Prince Far I and the Arabs: LONG LIFE (1980/96)

Und gleich danach eine Produktion des Brooklyner Worsdsound-Labels, die maßgeblichen Vertreter des US-amerikanischen Crossover von Dub und HipHop, das einerseits experimentellen Sound-Ideen aufgeschlossen ist, aber andererseits die bedeutenden Elemente noch sehr viel konkreter hält, weniger abstrakt als die britische Drum and Bass-Szene.

Dr. Israel vs. Loop: SAIDISYABRUKLINMON (1997)

Ein besonders erfolgreiche Ehe von HipHop und Neo-Dub und Reggae-Resten war das 1995 in Großbritannien erfolgreiche Genre TripHop: ein depressiver, leiser Rap zu Crossover-Strukturen. Mich interessiert am folgenden sehr bekannten und erfolgreichen Beispiel nicht so sehr dieses Genre, sondern die Rolle, die ein Sample aus dem Bereich der Weltmusik spielt. Die sibirischen Kehlkopfakrobaten aus der Region Tuva, die seit einiger Zeit in Weltmusikkreisen für ihre Obertongesänge populär sind, werden hier als Kennzeichensample eingesetzt: das, was wie eine exotische Flöte klingt, kommt von diesen sibirischen Sängern und codiert den Track so wie in anderen Beispielen der Rastafari-Ruf oder die spacige Synthifläche, nur daß dieses Sample, obwohl es isoliert und deutlich als solches zu erkennen ist, nicht für etwas nachvollziehbar Konkretes.

Massive Attack: KARMA KOMA (1994)

Das folgende Beispiel aus einem anderen Kontext soll zeigen, wie das Arbeiten mit Samples, DJ-Techniken und im Bewußtsein der Bedeutung von Sounds auch "normale" Bands wie in diesem Falle Moonshake. Auf einer Platte mit dem nicht unwichtigen Titel "The Sound Your Eyes Can Follow" - ein Hinweis auf die filmische "Lesbarkeit" von Soundarrangements - finden wir die Hinweise "Guaranteed Guitar free" und "All surface noise is an integral part of this recording, as part of an ongoing tribute to the slow death of vinyl."

Moonshake: JOKER JOHN (1993)

Kurz vor Schluß das große Ding von diesem Jahr. Die Platte, die auf verblüffendste und intelligenteste Weise Repetition und Außenreferenz vermischte. In oft winzigen Perioden wiederholen sich die Ereignisse bei dieser Tanzmusik, und doch enthalten die sich wiederholenden Ereignisse klangliche Verdichtungen, die jeweils - zuweilen scherzhaft, zuweilen ernst gemeint - ein ganzes Genre enthalten.

Daft Punk: DA FUNK
ROCK'N'ROLL
OH YEAH (alle 1997)

Es ist viel davon die Rede gewesen, daß sich die experimenteller orientierten DJs und Mixer an den Grenzen der Bereiche zunehmend für die Musik interessieren, die Sie hier normalerweise beschäftigt, sogenannte Neue Musik. Über Genres wie Ambient - am besten in David Toops Paradox definiert als Tanzmusik zum Nichttanzen, oder repetitive oder flächige elektronische Musik ohne Beats, und dessen auch wieder in Dub-Kreisen entstandenen Weiterentwicklungen wie der New Yorker Illbient Sound, über extrem reduzierte oder nur mit digitalen Unfallgeräuschen und Kontingenzen spielende Produktionen - hat es einige Fälle von Annäherungen gegeben. In Köln gibt es den mittlerweile international beachteten Laden A-Musik, der mit neuer Musik und neuer elektronischer Tanzmusik handelt. Hier stellt sich dann wirklich die Frage, ob an diesen Grenzen sich auch die Rolle der musikalischen Zeichen ändert. Ein nichtprivater, öffentlicher Pop-mäßiger Konsum auch der extremsten Experimente ist immer möglich und kann jederzeit in den Großstädten dieser Welt beobachtet werden, wenn sozial verweisende und codierbare Elemente zur Verfügung stehen, wenn ein Sound, ohne daß man sich gerade damit beschäftigen und hinhören muß, als unsere oder deren erkannt werden kann. Oder auch als ein Witz darüber. Sowohl Minimal Music wie, auf der anderen Seite, bestimmte Soundexperimente von Stockhausen, waren einflußreich und sind von DJs verwendet worden. Doch Pop-Musik hat in erster Linie kommunikative Ansprüche, nicht ästhetische. Aber wie ich schon eingangs erwähnte: aus Pop-Musik herausgewachsene Modelle können sozusagen "reine" ästhetische Ansprüche stellen, sie sind dann noch Pop und wirken auf den Rest von Pop, wenn sie die ästhetischen Träger dieses kommunikativen Anspruchs noch mit sich herumschleppen. Entscheidend beim Musikhören ist doch schließlich immer die Frage: woher kenne ich das jetzt nochmal? Ich entlasse Sie mit einem Illbient-Track aus New York

We: ILLBIENT TOOL (1996)








last update: 10.10.1997

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