Anderthalbfacher Suprematismus

Die russische Intelligenzija zwischen Paradox und Postmoderne

Benjamin Beck



Mit dem Ende der großen Entwürfe ist das Selbstbild der westlichen Gesellschaft in ein Sortiment von Identitätsentwürfen diffundiert. Die Symptome sind bekannt: Die Gesellschaft verflüchtigt sich in Erlebniswelten, die Politik verliert ihre Glaubwürdigkeit und ein emanzipierter Markt expandiert in eine globale Identitätsproduktion. Sowohl beim Entwurf des modernen Selbstbildes der Gesellschaft, als auch bei seiner Demontage spielten die Intellektuellen eine besondere Rolle. Indem sie nacheinander der Moderne und der Postmoderne ihren Namen gaben, beanspruchten sie - obwohl selbst ein Teil der Gesellschaft - eben diese Gesellschaft zu repräsentieren.

Die Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft, der Welt in der Welt ist ein Paradox, das - laut Luhmann - für das "Medium der Intelligenz" überhaupt bestimmend ist.[1] Es entspricht der allgemeinsten Paradoxie, nämlich der des Beobachtens, "das eine Unterscheidung verwenden muß, um die eine Seite der Unterscheidung (das heißt: überhaupt irgend etwas) bezeichnen zu können, dabei aber die Unterscheidung selbst nicht bezeichnen, oder nur mit Hilfe einer anderen Unterscheidung bezeichnen kann, für die dasselbe gilt. Der Beobachter ist also nicht in der Lage, sein Beobachten zu beobachten, weil er sein Unterscheiden nicht beobachten kann."[2] Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sich immer wieder um den Ausschluß von Paradoxien bemüht, ist es Kennzeichen intellektueller Äußerungen, Paradoxien zu entfalten. Das kann einerseits "pragmatisch" motiviert sein, wenn Kritik (und auch Kunst) verunsichern und alarmieren will, um neue Anstöße zur Veränderung der Welt zu geben. Andererseits kann sich dahinter das Bedürfnis des Intellektuellen nach "einer ihn selbst einschließenden Weltbeobachtung" verbergen.[3]

So betrachtet, verbirgt sich hinter dem Begriff der Postmoderne nicht das Ende einer Epoche, sondern er bezeichnet die "Semantik der Moderne".[4] Das intellektuelle Projekt der Aufklärung, die Welt zu entzaubern, nimmt sich im 20. Jahrhundert schließlich die Instrumente dieser Entzauberung selbst vor. Mit der Forderung nach dem wahlfreien Zugriff auf Traditionsgüter und dem Wunsch im Medium der Intelligenz beliebige Formen zu bilden, wird die paradoxe Lage der Intellektuellen offensichtlich: "'Postmodern' ist dann die Formel für Intellektuelle, die den Glauben an die von Ihnen bevorzugten Theorien verloren haben, aber trotzdem beisammenbleiben und darüber reden möchten." [5]

Mag die Bezeichnung Postmoderne auch unglücklich gewählt sein, so beschreibt sie doch eine Zeit, in der die Distanz zwischen sozialer Realität und Diskursebene offensichtlich wird. Die grundlegenden Ideen und Werte der Neuzeit, Individuum, Ratio und Humanismus, werden bewußt oder unbewußt zu relativen und bisweilen zweifelhaften Konstruktionen.

Die Distanz zur Ideologie der Moderne ist in Rußlands intellektueller Tradition ein altbekanntes Thema. Als das innereuropäische Andere wurden und werden in Rußland die europäische Kultur und ihre Ideen als wesensfremde Importe verhandelt, ohne daß man sich in bezug auf eine außereuropäische Tradition davon abgrenzen könnte. Rußland nimmt, seitdem es eine Intelligenzija besitzt, sozusagen die Postmoderne vorweg, gerade weil es die europäische Moderne nur teilweise, bzw. auf spezifische Weise mitvollzogen hat. Der Sonderweg der russischen Reflexion ist nicht ausschließlich im Diskursfeld zu verorten, sondern in Rückkopplung und Wechselwirkung mit der sozialen Realität.

Die funktionale Differenzierung der russischen Gesellschaft vollzog sich im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur punktuell. Einer der Bereiche, der soziale Mobilität zuließ, war die seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entstehende Öffentlichkeit. Die Akteure dieser Öffentlichkeit rekrutierten sich aus den unterschiedlichsten Ständen des autokratischen Reiches: aus Adel, geistlichem Stand, den Kaufleuten und einem Bürgertum, das sich erst formierte und im Vergleich zum Westen marginalen Einfluß besaß. Auf dieser Insel der Modernität entstand eine Formation, die sich - ihrer Distanz zur agrarisch-absolutistischen Umwelt bewußt - einen Namen gab, der später auch im fortschrittlichen Westen Verwendung fand: Intelligenzija. Die russischen Intelligenty verband ungeachtet ihrer Beschäftigung als Schriftsteller, Publizisten, Künstler und Revolutionäre das Bedürfnis, in Opposition zur Autokratie und ihrer russisch-orthodoxen Ideologie die Gesellschaft zu repräsentieren.

Im Unterschied zu den westlichen Intellektuellen stieß die russische Intelligenzija sehr früh auf das grundlegende Paradox ihrer eigenen Lage. Denn zur ihrer Konstituierung war sie auf westliche Ideen wie das autonome, kritikfähige Subjekt oder die "Gesellschaft" angewiesen. Andererseits bezogen diese sich auf eine soziale Realität, die von der russischen stark abwich. Diese Inkompatibilität machte den Import erst als einen solchen erfahrbar, er wurde selbst zu einem zentralen Thema der Intelligenzija. Im Westen entsprangen der in Bewegung geratenen Gesellschaft Entwürfe, die der Bewegung ein Ziel geben wollten. Der Blick der russischen Intelligenzija auf die Modernität der eigenen Gesellschaft offenbarte eine tabula rasa, einen unbeschriebenen Ort, dem grundsätzlich andere Wege offenzustehen schienen. Seine Geschichtslosigkeit ließ Rußland als ein einzigartiges Experimentierfeld erscheinen, auf dem es sich selbst erfinden konnte.[6] Die geistige Landschaft des Westens bot sich dementsprechend als ein Sortiment von Traditionen an, auf die man wahlfreien Zugriff hatte.

Diese vermeintliche Wahlfreiheit drängte die Erfinder Rußlands stetig zur Grundsatzdebatte über die Moderne. Tolstoj und Dostojevskij, Bakunin und die russischen Marxisten, Nihilisten und Symbolisten, sie alle drängte es zu den großen Fragen nach Fortschritt und Befreiung, nach dem Guten und der Erkennbarkeit der Welt. Die pragmatische Umsetzung ihrer grandiosen Pläne trat dabei oft in den Hintergrund. Und mit Vorliebe kleideten Literatur und philosophische Essayistik ihre Gedanken in die Form der Paradoxie.

Die Distanz zu europäischen Ideen und Werten einerseits und zu der eigenen, "asiatischen" Gesellschaft andererseits mündete jedoch nicht in eine alles relativierende Dekonstruktion, auch wenn die Intelligenzij dem sehr nahe kam. Das deutete sich in der Selbstbezeichnung "Intelligenzija" und der unausgesetzten Debatte über ihre Aufgabe in der Gesellschaft an. Der distanzierte, spielerische Umgang mit der Ideologie der Moderne findet sich darüber hinaus in der literarischen Karikatur des Westlers oder in der Tatsache, daß sich in Rußland nie ein politisches Links-Rechts-Schema etablieren konnte. Zwischen den grundlegenden Parteiungen der Westler und Slawophilen, den Revolutionären und religösen Erneuerern herrschten und herrschen auch heute im Vergleich zum Westen viel größere Fluktuation und Überschneidungen.

Wenn die russische Intelligenzija sich auch - wie die postmoderne Intelligenz - am Rande der Selbstauflösung bewegte, so neigte sie doch auch zu einem spezifischen Ausweg aus ihrer paradoxen Lage. Ihre Distanz zur gesellschaftlichen Realität und zu Europa versuchten die russischen Intellektuellendiskurse oftmals in eschatologischen Entwürfen und messianischer Erlösung zu überwinden. Theorien und Konzeptionen, die sich am Rande des westlichen Ideenspektrums befanden, weckten deshalb in Rußland immer wieder besondere Aufmerksamkeit, wenn sie einen utopischen Ausweg aus dem Dilemma der Intelligenzija versprachen. Einen Ausweg, der den universalen Anspruch der westlichen Kultur verneinte und noch umfassendere Universalität beanspruchte.

Letzteres gilt nicht nur für die "russische Idee" der Religionsphilosophen, die in mystischer Erfahrung die rationalen Irrtümer des Westens entlarven will, sondern auch für den Leninismus. In seinem , legte Lenin die dogmatischen Grundlagen für den nach der Revolution kanonisierten Diamat.[7] Dieser Materialismus war von der Dialektik des Erkenntnisprozesses weitgehend gereinigt und installierte sie in der Natur, in den Dingen selbst. Die Produktionsverhältnisse, bei Marx noch zum Teil als Verhältnisse zwischen Menschen angelegt, wurden in Lenins Interpretation quasi zu Dingen, zu Seinsweisen. Dieses Sein soll sich zwar im Bewußtsein widerspiegeln; jedoch ist die Gegenüberstellung von Sein und Bewußtsein nur bedingt, während die Grenzen dieser Gegenüberstellung, d.h. "die absolute Notwendigkeit und die absolute Wahrhaftigkeit", die "Richtung der erkenntnistheoretischen Untersuchungen" bestimmen.[8] Damit war dem Bewußtsein die Möglichkeit gegeben, das Sein zu überholen. Jenes Bewußtsein, das fähig war in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu handeln, manifestierte sich für die sowjetische Ideologie in der Partei der Berufsrevolutionäre. Die "gesellschaftliche Praxis", d.h. die Beschlüsse der Partei bekamen eine Art Metabewußtsein, das der individuellen Erkenntnis nicht zugänglich war.

Damit war der Marxismus-Leninismus befreit von der Aufgabe, seine Prinzipien auf sich selbst anzuwenden. Übrig blieb eine handfeste Ideologie, die erlaubte, das Sein des Menschen und damit den Gang der Geschichte richtig zu deuten und dementsprechend zu handeln. Ideologiekritik diente in erster Linie dazu, Abweichungen von der wahren Lehre zu identifizieren. Während die westlichen Epigonen den Marxismus in Bezug auf die bestehenden Verhältnisse revidierten, machte Lenin ihn zu einer herrschaftslegitimierenden Ideologie. Spätestens in seiner Stalinschen Prägung war der sowjetische Marxismus in der Praxis ein Überbau-Basis-Modell, anders ausgedrückt: das Bewußtsein bestimmte das Sein.

Der Politologe Sergej Medvedev dokumentiert das Besondere dieser Ideologie anhand einer Anekdote über die Entwicklung der sowjetischen Kartographie.[9] In den 20er Jahren plante der erste Arbeiter- und Bauernstaat, die Sowjetunion so präzise wie noch nie zu kartographieren. Das Projekt stellte sich als außerordentlich langwierig heraus. Zum siebzigsten Geburtstag Stalins schließlich entrollten die Truppen des Innenministeriums eine Karte im Maßstab 1:1.

Über die weitere Geschichte der Karte, berichtet Medvedev, herrsche Unklarheit. Eine Partei behauptet, sie habe sich allmählich abgenutzt und heute seien Reste von ihr nur noch in entlegenen Gegenden der ehemaligen Sowjetunion zu finden, so etwa in der Wüste Kisil-Kum. Nach einer anderen Version soll die sehr stabile Karte noch völlig intakt sein und es sei das Land, das sich aufgelöst habe und mittlerweile nicht mehr vorhanden sei.

Diese Anekdote ist weniger Metapher für sowjetische Monströsität oder für das Beharrungsvermögen eines überlebten Sozialismus. Sie dokumentiert vielmehr die semiotische Geographie der russischen Selbstreflexion. Zeichen, Symbole und Karten, kurz Texte, neigen in der russischen Weite dazu, sich in Mythologeme zu verwandeln. Sie verlieren ihren Referenten. Nicht mehr der Verweis auf eine Sache macht ihren Sinn aus, sondern die beschwörende Macht des Zeichens selbst ist das Wesentliche. Die Welt verblaßt nicht nur hinter ihrer Beschreibung, sondern sie soll durch die Beschreibung neu geschaffen werden. Ihr Autor wird zum Schöpfer.

Der Autor der sowjetischen Ideologie war die Kommunistische Partei, denn nur sie konnte mittels der gesellschaftlichen Praxis Wahrhaftigkeit und Notwendigkeit bestimmen. Die sowjetische Philosophie konnte das nicht. Boris Groys hat gezeigt, daß die akademischen Ideologen der Akademien, der Hoch- und Volksschulen nur indirekt die Hüter der kommunistischen Wahrheit waren.[10] Denn gemäß dem Marxismus-Leninismus konnte kein individuelles Bewußtsein je "das Leben in allen seine Widersprüchen erfassen". Die Aufgabe der sowjetischen Philosophen war es also, sich in ihren Diskussionen forwährend selbst zu verneinen. Da sich Wahrheit nur in der gesellschaftlichen Praxis der Partei offenbarte, blieb ihnen nur, die Einseitigkeit der "idealistischen", "metaphysischen" und schließlich der eigenen Positionen zu bestätigen.[11] Zahllose Publikationen wiederholten in ritueller Form, daß sie selbstverständlich nur einen Aspekt der widersprüchlichen sozialen Realität beschreiben könnten.

Mit Luhmann könnte man sagen, die offizielle Gesellschaftstheorie und Philosophie der Sowjetunion produzierten fortwährend Formen im Medium der Intelligenz. Ihre Arbeit war nicht darauf ausgerichtet, Paradoxien zu isolieren, um so methodologische Grundlagen zu schaffen, die eine wissenschaftliche Beschreibung der sozialen Realität ermöglichten. Statt dessen bestätigten sie fortwährend die alleinige Kompetenz der Partei, indem sie ihre eigene erkenntnistheoretische Begrenztheit eingestanden. Hinter diesem Eingeständnis gelang es manchem Wissenschaftler, erstaunlich unmarxistische Ideen zu publizieren.

Parallel zur offiziellen Ideologie in den Wissenschaften hat sich die Kunst der Sowjetunion entwickelt. Groys nennt den sozialistischen Realismus einen "anderthalbfachen Stil", der sich einer proto-postmodernen Technik bediente.[12] Postmodern meint hier einerseits das Eingeständnis der modernen westlichen Kunst, daß ihr Streben nach Autonomie vom Markt, von Ruhmessucht oder vom Diskurs abhängt, und andererseits die Reflexion dieser Abhängigkeit. Das äußert sich in der Hinwendung zur Massenkultur und ihrer Strategie der Aneignung fertiger Kunstformen.[13] Wobei in der Reflexion der eigenen Konstitutionsbedingungen, wiederum die Bedingtheit nicht überwunden werden kann.

Ebenso wandte sich die sowjetische Staatskunst gegen den elitären Charakter und die Marktabhängigkeit der modernen, "bürgerlichen" Kunst. Auch hier bedeutete das die Aneignung traditioneller Kunstformen, ohne daraus eine neue Elitekultur zu schaffen. Erklärtes Ziel war, das kulturelle Niveau der Massen auf das Niveau der Hochkultur anzuheben. Das Ergebnis war all zu oft eine Massenkitschästhetik, die zwar nicht dem Markt, aber der politischen Macht verpflichtet war. Letzteres stellte - im Gegensatz zur Postmoderne - eine Tabuzone dar, die nur in der Dissidenz reflektiert werden konnte.

Als mit dem Ende der Sowjetunion die Zensur fiel, rannten also postmoderne Theorie und Praxis in Rußland offene Türen ein. Philosophische Zeitschriften und die traditionell sehr anspruchsvollen Feuilletons der Tagespresse waren sich daher schnell einig, daß es sich prinzipell um nichts Neues handelte. Um so schneller adaptierte man das Vokabular zur Dekonstruktion westlicher Grundwerte. Dialektisch gedacht könnte man vermuten, daß in der postsowjetischen Postmoderne die Intelligenzija in Übereinstimmung mit ihrem westlichen Gegenpart ihre Auflösung erklären würde, um so endgültig jede geographische und semiotische Distanz zu überwinden. Tatsächlich sträubt sich die russische Intelligenzija ebenso gegen die Selbstauflösung, wie sich die postmodernen Intellektuellen weigern, die Diskussion über ihre paradoxe Lage zu beenden.

Die samtene Revolution hatte in Rußland eher den Charakter einer Implosion, letztlich wurde das gesamte Staatssystem per Dekret von oben abgeschafft. Unter den Ruinen der sowjetischen Institutionen offenbart sich eine - im Vergleich zum Westen - amorphe Gesellschaft, die weder für bürgerliche Ideale noch für den Kapitalismus besonders geeignet zu sein scheint. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft verlief in der Sowjetunion nach Vorgabe des Staates, nicht als selbstgesteuerter Prozeß. Heute muß sie in einem beispiellosen Umverteilungsprozeß erst wieder neu definiert werden.

Die postsowjetische Intelligenzija steht wieder vor einer tabula rasa und wie unter den Zaren glaubt ein Großteil von ihr, Rußland könne sich seinen zivilisatorischen Weg frei wählen. Bevorzugt fällt dabei die Wahl auf jeweils unterschiedliche Bestimmungen der spezifisch russischen Tradition. Der Rezeption der vorsowjetischen und nach der Revolution exilierten Religionsphilosophie kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie hatte mit der Synthese aus byzantinischem Glauben und kulturellem Sonderweg eine Neudefinition der universalen christlichen Werte unternommen. Ihre Vertreter stellten sich die komplexe Aufgabe, die Staatskirche zu reformieren, das Volk in neu-alter Gemeinschaftlichkeit zu emanzipieren und gleichzeitig eine nationale Kultur zu schaffen, die dem Westen eine erlösende Botschaft zu verkünden hatte.

Auch wenn die Verbreitung dieses lange zensierten Erbes inzwischen weite Teile der intellektuellen Landschaft beherrscht, gibt es Versuche, es dem ausgehenden 20. Jahrhundert anzupassen. Ein Teil der Intelligenzija unterscheidet sich dabei nicht grundlegend von ihren liberalen, sozialen und konservativen Brüdern im Westen. Ein anderer knüpft an die semi-postmodernen Strategien der russischen Tradition an. Darunter die eigenwillige Synthese aus Diskurstheorie und geopolitischem "Eurasiertum" von Alexander Panarin. In seinem Verständnis von der Macht des Diskurses ist mit der Postmoderne die Stunde der Intellektuellen gekommen. Die Entdeckung, daß soziale Zustände erst durch Sprache und Kultur geschaffen werden, deutet er als einzigartige Chance: "Neue geisteswissenschaftliche Eliten", meint Panarin, können in der Postmoderne "aus der Erinnerung Völker" schaffen. [14] Diese neue Intelligenz solle im Verein mit der technokratischen Elite Rußland in die postindustrielle Zivilisation führen und zu einem "zweiten Amerika" im eurasischen Raum machen.[15] Postmoderne Philosophie wird hier zum Bauplan einer neuen Welt, der nicht - wie die westliche Postmoderne - in diskursiver Praxis mühsam Hegemonien aufbrechen will, sondern gleich zum großen Wurf ansetzt.

Panarins eurasischen Träumen diametral entgegengesetzt, aber nicht weniger postmodern, verkündet der Moskauer Kunstkritiker und Kurator Viktor Misiano das Ende der Intelligenzija. "The catastrophic actuality gave birth to a phenomenon, crucial for the history of Russian culture, the end of intelligentsia. The transitional period deprived the intelligentsia of its monster which stimulated it towards self-identification: it turned to the escape of the ideological power. Intelligentsia, being the winner over , within the period of the feels to be thrown on the side of the society. (...) After the catastrophe it's impossible to tell big stories: this obsession of the Russian intelligentsia is ridiculous as nobody remained who likes to listen to these stories."[16]

Aber selbst wenn der Intellektuelle Misiano sich selbst für überflüssig erklärt, schimmert auch bei ihm ein über-westlicher Universalismus durch. Gerade ihre Nichtigkeit eröffnet der russischen Intelligenzija einen ungewöhnlich klaren Blick auf die eigene paradoxe Lage. Dabei wird genau diese Klarsicht selbst wieder zur Mission. "Being true that at the modern vanity fair everybody boasts of catastrophes, it's also true that the more marginal and catastrophic is becoming the Russian experience, the more universal it becomes. (...) To reach the end, to go to the limit of moral possibilities that was for years the basic moral mission of Russian intelligentsia."[17]

Das Spiel mit dem Paradox prägt nicht nur die intellektuelle Reflexion sondern auch die politische Kultur Rußlands. Diese Kultur ist aus "der Situation des totalen Verständnisses" geboren, die Evgenij Barabanov für die russische Unfähigkeit zu ernsthaftem Philosophieren verantwortlich macht.[18] Es scheint sich hinter dieser Situation das bewußte oder unbewußte Wissen zu verbergen, daß jede Art der gesellschaftlichen Reflexion oder politischen Äußerung, "nur" im Reich der Symbole lebt. Daraus kann schnell der Umkehrschluß folgen, daß das Reich der Symbole selbst zur Welt werden kann.

Das Wissen um die Diskurshaftigkeit führt zu einer Art doublethinking, hinter dem sich einerseits die Weisheit der Narren in Christus offenbart, die im alten wie im neuen Rußland sehr beliebt waren und sind. Andererseits mündet es in das Bedürfnis, die als verkehrt erkannte Welt mit radikalen Mitteln wieder auf die Füße zu stellen. Genau das führt der Nationalpatriot Vladimir Schirinovskij der russischen Öffentlichkeit vor, wenn er sich mit seinen parlamentarischen Provokationen als Anti-Politiker profiliert. Während des Präsidentschaftswahlkampfes erreichte seine Clownerie ihren Gipfel, als er in postgelbem Anzug einen folkloristischen Karnevalszug durch Moskau führte. So radikal wie Schirinovskij Politik als solche karikiert, so ernst ist es ihm gleichzeitig, erst den russischen und dann den globalen Saustall auszumisten.

Der Moskauer Künstler Oleg Kulik verläßt den politischen Diskurs nicht weniger ambitioniert als Schirinovskij, jedoch in eine andere Richtung. Als Gründer der Partei der Politischen Lebewesen will er das Gesetz des Dschungels wiederherstellen - d.h. die wahre Demokratie. Das politische Lebewesen an der Macht bedeute nicht, daß nur Ziegenböcke und Affen die Parlamente bevölkern, wie das heute der Fall sei. Kulik fordert mit dem Slogan "Vorwärts zur Natur" den Übergang vom Anthropozentrismus zum Zoozentrismus, denn die Welt sei nicht geteilt in Männer und Frauen, sondern in Hunde und Löwen, in Ameisen und Ameisenbären. Wie jedes Gesetz muß auch das des Dschungels vervollkommnet werden: Durch weitere Eskalation der politischen Korrektheit, durch juristische Begründung der Bioethik und gleiche politische Rechte für alle Lebewesen.

Sein politisches Programm ergänzt Kulik durch das künstlerische der Zoophrenie, die das Lebewesen als das "andere Ich des Menschen, als das nichtanthropomorphe Andere" darstellt. Kulik entsagt jeder Sprache der menschlichen Kultur und ist zum Hund geworden. Für ihn spricht seine ehemalige Frau und jetzige Halterin Mila Bredichina: "Hauptinteresse der Zoophrenie ist das Interesse an der Realität, die aus Gründen der Irrationalität in keinem philosophischen und künstlerischen System Platz findet. Dabei weiß jeder Hund, was unbedingte Realität bedeutet."[19]

Die russische Reflexion ist mit einem besonders feinen Gespür für die Grenzen der westlichen Selbstbilder ausgestattet. Dabei thematisiert sie nicht nur bevorzugt die Beschränktheit des Eurozentrismus, sondern kann diese Grenzen auch viel leichtfertiger überschreiten. Im Dialog mit dem Westen hält Rußland so ersterem ständig seinen eigenes Spiegelbild vor, erschüttert dabei aber gleichzeitig die Grundlagen für jeden Dialog, - sowohl innerhalb Rußlands als auch zwischen Ost und West. Genau das war die Ursache für den Skandal während der Stockholmer Interpol-Ausstellung im Februar 1996.[20]

Das Interpol-Projekt war auf zwei Jahre angelegt und sollte den Dialog zwischen Ost und West künstlerisch fördern. In den Augen der russischen Beteiligten blieb das Vorhaben in demokratischer Restauration und den Interessen des Kunstmarktes gefangen. Für sie wurde hier der eigentliche Sinn von Kunst verraten, ein Dialog kam nicht zustande. Um das zu dokumentieren, trat der Hund Kulik als eines der typischen Rußlandbilder des Westens auf: als wilde Bestie, die Besucher und Sponsoren der Ausstellung attackierte und biß. Ein anderer Künstler, der Moskauer Alexander Brener, zerstörte die zweijährige Arbeit der Taiwanchinesin Wenda Gu.

Der radikale Kampf für die wahre Kunst fand bekanntlich in einer weiteren Aktion Breners seine Fortsetzung: Mit einer Spraydose bewaffnet, betrat er Anfang des Jahres das Stedelijk Museum in Amsterdam und besprühte Malevitschs "Weißer Suprematismus 1922-1927" mit einem rahmenfüllenden, grünen $-Symbol. Damit stellte er dar, was lange bekannt ist: Das Werk der russischen Avantgarde ist heute in erster Linie ein Objekt des Kunstmarktes. Während Vertreter dieses Kunstmarktes erwartungsgemäß von Zerstörung sprachen, verwies der Künstler auf die ursprüngliche Intention Malevitschs, mit seiner Kunst die kapitalistische Welt zu verändern. Sein Graffiti stehe in eben dieser Tradition, denn jetzt sei der eigentliche Sinn des Bildes wiederhergestellt.[21]

Zwar fanden sich in der Kunstszene eine Reihe von Unterstützern, darunter der holländischer Künstler Mathieu Raemaekers, dem eine ähnliche Tat schon lange vorschwebte, es aber selbst nur zu einer umfassenden WWW-Dokumentation[22] des Ereignisses gebracht hat. Auf der anderen Seite warf man Brener "verantwortungsloses Verhalten" vor. Denn: "Likewise with democracy, security of people and objects also needs a culture of respect." Außerdem handele es sich hier nicht um Kunst, sondern um Narzißmus und ein Symptom der Mediengesellschaft. [23] Ein offener Brief an die Kunstwelt war im Anschluß an den Stockholmer Skandal noch weiter gegangen. Er warf den russischen Künstlern und ihrem Kurator, Viktor Misiano, totalitäre Ideologie vor.[24]

Egal wie man die beiden Ereignisse beurteilt, ob als Barbarei oder Befreiung der Kunst, sie machen unmißverständlich auf die paradoxe Lage kritischer Kunst aufmerksam. Will man die Abhängigkeit der Kunst vom Markt kritisieren, ohne die Grenzen dieses Marktes zu überschreiten, bestätigt man letztlich immer seine Existenz. Mit seiner Tat hat Brener nicht nur symbolisch auf das Problem der Marktabhängigkeit aufmerksam gemacht, sondern es sozusagen praktisch überwunden: Der Wert des 20 Mill. Gulden teuren Bildes ist um ein Viertel gefallen.

Was für den Warentausch von Kunstobjekten gilt, ist auch auf die "Kultur des Respekts" anwendbar, die offensichtlich mit der kapitalistischen Logik Hand in Hand geht. Ein Dialog, der auf der Grundlage von Künstler-Individuen und sponsorenfinanzierten Projekten basiert, kann die Bedingungen dieses Dialogs nur revidieren, indem er ihn abbricht oder indem er ihn post-human oder prämodern thematisiert. Die Tatsache, daß es gerade Russen sind, die diesen blinden Fleck gewaltsam in den Bereich der Wahrnehmung zerren, macht einerseits die Hellsichtigkeit des immer schon postmodernen russischen Denkens gegenüber der Hegemonie des Westens deutlich. Es zeigt aber auch die Schattenseiten dieser Hellsichtigkeit, wenn etwa Breners Kritik am Westen die Zerstörung des Kunstwerks einer Asiatin in Kauf nimmt. Für den russischen Intellektuellendiskurs gilt in ähnlicher Weise, was Lenin in berüchtigter Schärfe über das vorrevolutionäre Rußland gesagt hat: Er ist eine Kolonie des Westens und gleichzeitig imperialistischer Konkurrent.

  1. Luhmann, N.: Gibt es ein "System" der Intelligenz?, in: M.Meyer (Hg.): Intellektuellendämmerung?, München 1992, S. 60.
  2. Luhmann (1992), S. 61.
  3. Ebenda.
  4. Luhmann (1992), S. 64.
  5. Luhmann (1992), S. 64/65.
  6. Groys, B.: Die Erfindung Rußlands, München 1995, S. 7.
  7. Merleau-Ponty, J.: "Prawda", in: Die Abenteur der Dialektik, Frankfurt/M. 1968, S. 74.
  8. Lenin, W.I.: Materializm i empiriokriticizm, Moskau 1969, S. 241.
  9. Medvedev, S.: The General Theory of Russian Space: A Gay Science and a Rigorous Science, unveröfft. Manuskript, S. 6/7. (Dank eines Hinweises von Martin Conrads:)Die von Medvedev auf die russische Geographie übertragene Geschichte wurde u.a. von Eco sehr geschätzt, von Borges zitiert und stammt aus dem 17. Jahrhundert. Vgl. Eco, Umberto: Die Karte des Reiches im Ma¤stab 1:1, in: Bianchi, P./Folie, S. (Hg.): Atlas Mapping; Künstler als Kartographen und Kartographie als Kultur, Wien 1997, 228-231.
  10. Groys (1995), S. 91.
  11. Ebenda.
  12. Groys (1995), S. 190.
  13. Groys (1995), S. 192/3.
  14. Panarin, A.: Die Sprache der Eliten und der zivilisatorische Wandel in Eurasien, in: B.Heuer/M.Prucha (Hg.): Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung fÄr die Philosophie, Frankfurt/M. 1995, S. 129.
  15. Panarin (1995), S. 139.
  16. Misiano, V.: Justification of Art and the End of Intelligentsia, in: http://utopia.knoware.nl/users/like_art/b_justif.htm
  17. Ebenda.
  18. Barabanov, E.: "Philosophie von unten"; Die historiosophische Tradition in der postkommunistischen russischen Philosophie, in: Heuer/Prucha (1995), S. 74.
  19. Kulik, O./Bredichina, M.: Politicheskoe zhivotnoe obrashchaetsja k vam (Das politische Lebewesen wendet sich an Sie), in: Chudozhestvennyj zhurnal, 11 (1996), S. 58/59.
  20. Art Scandal, Stockholm, 96.02.14: http://www.artnode.se/news/Fargf.html
  21. http://www.heck.com/nsk/nsknews.html
  22. http://utopia.knoware.nl/users/like_art/
  23. Ganahl, R. , Subjekt: Brener&Flash Art - Terrorism&Naivity, in: http://www.thing.net/thingnyc/wwwboard2/messages/214.html
  24. Art Scandal, Stockholm, 96.02.14: http://www.artnode.se/news/Fargf.html







last update: 2.3.1997

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