Russischer Rap

Ralf Boent



Da hängen einige am Brett aus, mußte mal reinsehen, was Dich interessiert!

Riemann war kommissarisch Leiter der Theorie-Abteilung in Zeuthen und am Brett auf dem Theorie-Flur hingen Konferenzen angekündigt. Die meisten gaben proceedings heraus, d.h. man schrieb hinterher seinen Vortrag auf und hatte eine Veröffentlichung, ohne sich mit den sonst üblichen Gutachter-Problemen rumschlagen zu müssen. Die Arrivierten im Institut fanden es eher unschick, nach Moskau zu fahren. Sie waren da bis 89 immer hingefahren, sprachen alle fließend russisch und machten sich jetzt bei jeder Gelegenheit in die andere Richtung auf. Ich hatte einen Vertrag für 6 Monate und seit fast einem Jahr keine Publikation mehr geschrieben. Riemann wollte offenbar sicherstellen, daß ich wenigstens irgendwas ans Licht förderte in der kurzen Zeit, so daß sich die Gefälligkeit, die sie mir erwiesen, auch für das Institut lohnen würde.

Einer der Organisatoren von Moscow State war gerade als Gast im Haus. Auch er fuhr nur noch in den Westen, und von Moskau aus war sogar Ostdeutschland akzeptabel. Ich kannte ihn irgendwoher vom Sehen, wahrscheinlich aus München. Mein Thema akzeptierte er sofort, ich würde zahlender Gast sein, und Riemann, der wohl eher nicht mit dem großen Mathematiker verwandt ist, war zufrieden.

Fuck it, sagte ich mir voller Freude. Den Winter hatte ich in New York verbracht, der Jahrhundertwinter hatte er dort geheißen. Drei Monate hatte ich mannshart mitten auf Long Island rumgehangen, in einem Forschungsghetto, Brookhaven, eine Militärkaserne aus den Weltkriegen. Mannshart hatte ich drei Monate abend für abend auf meinem Zimmer mein Beck's getrunken und Roman auf Roman gelesen, meinen Lebenslauf verschönt, mich am Wochenende zwischen einer Unterkunft in der 29. Ecke Broadway und dem East Village durch den Eiswind gekämpft und wenn Christiane aus Australien anrief, stöhnte sie über die Hitze. Immerhin kannte ich ein paar Leute in New York, ist ja die Welthauptstadt, kannte eine Handvoll guter Bars und hatte, ganz James Dean, drei oder vier Telefonnummern auf leeren Streichholzpappen. Jetzt war ich in Berlin, im Jahrhundertsommer, und der Gedanke, im Herbst meine Physikerkarriere in Moskau zu beenden, gefiel mir ausgezeichnet.

Ich beschloß, mit dem Zug zu fahren. Womit ich auf Unverständnis stieß: Da werden Sie bloß ausgeraubt! wunderte sich die Sekretärin und ließ mich ungläubig wissen, ich könne doch mit der Lufthansa fliegen. Der Zug fährt täglich aus Lichtenberg, das ist 10 Fußminuten von unserer Wohnung, die connection in den richtigen Osten hatte ich also vor dem Haus. Ostberlin, das liebte ich fast nach den scheußlichen Jahren in München, endlich hatte ich Geschichte zum Anfassen und jeden Tag. Bei Lichtenberg winken die Meisten natürlich ab, dabei ist es um den Bahnhof herum genauso hübsch wie in Friedrichshain oder Prenzlberg, zum Kotzen hübsch eben. Wir wohnen weiter unten, am Nöldnerplatz, das ist wirklich Ostberlin, wenn man aus München kommt: Arbeiterhäuser, ungefähr hundert Jahre alt und eines vergammelter als das andere und keine nette Kneipe oder überhaupt etwas Nettes in der Nähe. Für einen Münchner also die totale Entspannung. Türen und Fenster haben wir irgendwie bunt gestrichen, die Hausverwalter kümmern sich hier eh um nichts. ätzend war bloß die Geschichte mit dem Telefon. Es gibt auch jetzt, 94, noch keine normalen Anschlüsse und ich mußte extra eine Firma gründen und erst vierwöchentlich, dann zweiwöchentlich, schließlich täglich die Frauen beim Fernmeldeamt nerven, solange bis ich alle kannte und die reihumgehenden Verleugnungen durchschaut hatte und mit kunstvollen Interventionen durchkreuzen konnte. Mit der Zeit hatte ich auch die Argumente des Unternehmers eingeübt, ich glaubte am Ende selber, daß ich ein Büro für wissenschaftliche übersetzungen hatte. Wahrscheinlich funktioniert Schauspielerei so ähnlich dachte ich mir dabei und kannte das eigentlich auch von meinen Vorträgen. Nach Monaten jedenfalls hatte ich schließlich die Damen von der Lebenswichtigkeit dieses Telefons überzeugt und drei Tage bevor ich nach New York flog, kam ein Monteur und installierte es nach Akkordvorgaben.

Egal, es ist ja noch immer da und ich befand mich jetzt also auf meiner großartigen West-Ost-94er-Weltumsegelung, wo im Moskauer Chaos na klar noch ganz andere Abenteuer warten mußten. Am 14. September gings los. Am 13. stellte ich fest, daß die conference fee, 400 $, vor Ort in bar abgegeben werden sollten. Ich verbrachte den halben Tag damit, traveller checks zu besorgen. In der Zeuthener Filiale empfahl man mir, nach Königs Wusterhausen zu fahren. Das tat ich, von Zeuthen aus zwei Stationen, und rannte eine Stunde erfolglos von Bank zu Bank. Am Ende - ich hatte es schon aufgeben wollen und mir für die Veranstalter Ausreden wegen meiner Euroschecks ausgedacht - bekam ich die Dinger bei uns um die Ecke, von wo sie umständlich und teuer mit meinem Münchner Konto verrechnet wurden. Ich beschloß, falls ich aus Moskau zurückkehren sollte, mit dem Konto eines der letzten Relikte meines Münchner Lebens aufzulösen.

Morgens verabschiedete ich mich am Nöldnerplatz von Christiane und fuhr zum Bahnhof hoch, erregt, wie seit Jahren nicht mehr von einer Reise. Der Sommer, dem Jahrhundert das er war zum Trotz, befand sich im Abgesang. Wir hatten schon kühle Tage gehabt, auch wenn es jetzt wieder fast 20 Grad waren. Eigentlich schade, dachte ich, jetzt in die Kälte zu fahren, in zwei Wochen würde es sicher auch mit den letzten schönen Tagen vorbei sein. Ich nahm Abschied vom wunderschönen, zu schnellen Sommer.

Der Zug, in einem abgewetzten dunklen grün und kurz, war schon vom Innern der S-Bahn aus auf einem der Nachbargleise zu sehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, daß es im Zug zu Essen gab, hoffentlich genießbar und nicht überteuert. Der Zug hatte lustige Schilder mit zwei gekreuzten Flaggen und der Aufschrift Moskau - Berlin in lateinisch und kyrillisch auf jedem der Waggons. Es gab ein Restaurant, es war ausschließlich kyrillisch beschriftet und trotzdem sofort erkennbar. Ich fing natürlich an, die Schrift überall xu entziffern, konnte aber gar nichts. Erst als ich Thomas getroffen hatte und mit seinen Instruktionen allein in der Moskauer subway unterwegs war, ging es besser. Die donnern da mit ihren Zügen in der Unterwelt herum wie die Geisteskranken, irre schnell und jede Minute ein Zug, jeder proppevoll mit Millionen Menschen aus Kasachstan, Kirgisien, Abchasien und was es in diesem riesigen Osten noch alles gibt. Die Moskauer sind darunter gut zu erkennen in ihrer klassischen Eleganz. Die ist schöner noch, lakonischer als die in Paris.

Ein Arm dieses Ostens endet also mit dem russischen Zug in Lichtenberg. Erst vor ein paar Tagen hatten wir im Telly die Abreise der letzten russischen Truppen von hier gesehen. Jetzt zeigte ich zum Einsteigen mein Ticket mit der Platzkarte vor. Der Schaffner trug eine Uniform, die, obwohl Uniform, eigentlich schön war. Er sprach russisch und sollte über die kommenden anderthalb Tage zum Vertrauten Begleiter werden. Im Abteil, als ich die Tür öffnete, befanden sich ebenfalls: Russen! Ein Paar in meinem Alter und der Vater der Frau, wie sich gleich herausstellte. Wegen der Enge und der Fremde verließ ich das Abteil sofort wieder und ging zum Ende des Wagens, um dort die Zeit bis zur Abfahrt zu verbringen. Der jüngere der beiden Männer war gleich hinter mir her gekommen und bei mir und bot mir lächelnd eine Zigarette an. Christiane und ich hatten mit dem Rauchen eigentlich aufgehört, aber ich wollte die freundliche Geste nicht abweisen, also rauchten wir. Nach dem ersten Zug sagte er etwas von Geld, 700 Mark, die sein Schwiegervater, Vatterr von Frreundin, nicht mit hinein nehmen dürfe ins eigene Russland und ob ich das machen könne. Sein Deutsch war eher anstrengend. Ich überlegte, sah aber keine Gefahr für mich und wollte Frieden im Abteil, war Minderheit und sagte zu. Wir gingen zurück zum Abteil, setzten uns. Der Vater schloß die Schiebetür. Mit zur Seite gestrecktem Oberkörper und gestrecktem linkem Bein holte er ein dickes Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche, also ein wirklich dickes Bündel, vielleicht zwei Zentimeter dick, das ist schwer in Zentimeter abzuschätzen, jedenfalls einen dicken Packen Scheine. Das sind 4.000 Mark, sagte der Jüngere als ich den Packen Hunderter und Zweihunderter übernahm. Ich lächelte, wahrscheinlich unsicher, und sagte: okay, oder sowas, die anderen lächelten aufmunternd zurück und ich begann, die Scheine zu zählen. Sie sahen mir ruhig zu. Das Zählen dauerte. Es dauerte solange, als sei ich auf einer Wanderung im Hügelland und habe eigentlich die nächste Anhöhe noch erreichen wollen, der ich aber seit Stunden nicht näher kam, die sich stetig entzog. Bei 2.000 gab ich auf. Mir war schlecht von der Zigarette auf nüchternem Magen. Ich lächelte, sah vom Zählen hoch, sagte: Ist ja egal, faltete das Scheinepaket in der Mitte so gut es trotz Dicke ging zusammen, steckte es mit zur Seite gestrecktem Oberkörper und gestrecktem rechten Bein in meine Hosentasche und dachte an einen Krimi im Ruhrgebiet. Die Anderen lächelten ermunternd und ich war sicher, sie würden an Down by Law denken, wenn sie das kannten.

Der Jüngere verabschiedete sich und ich war mit Vater und Tochter im Abteil. Reden konnten wir gar nichts, so lächelten wir uns ab und zu an, mit dem Vater vor allem. Ein Lächeln der Tochter hätte mich auch nicht gestört, aber sie war richtiggehend scheu, wie auch später alle jungen russischen Frauen, mit denen man flüchtig zu tun hatte. Der Zug setzte sich in Bewegung, fuhr einen Bogen über die Frankfurter Allee hinauf, kam dann wieder in den Norden unter sie herunter. Der Vater stellte eine Reihe Bierdosen verschiedener Sorten auf dem Rand unter dem Tisch auf, dazu eine Flasche Korn. Er begann von beidem zu trinken und bot mir von beidem an. Ich lehnte dankend ab und ging auf einen Kaffee ins Restaurant. Dort befand ich mich plötzlich in Russland: der Wagen war reich geschmückt, Lampen, Gardinen, Tischdekor, jede Einzelheit an sich vollkitschig, aber zusammen hatte das schlicht etwas Großartiges, überlegenes. Man nahm nichtmal wahr, daß alles aus Plastik war. Der Kaffee kostete soviel wie in einer Berliner Kneipe, für ein Zugrestaurant also vollkommen akzeptabel, und war ausgezeichnet. Ich beglückwünschte mich zur Zug-Entscheidung und richtete mich auf die Fahrt ein: 30 Stunden in eine andere Welt, eine andere Zeit zu fahren, in ein anderes Leben, wenn es dort außer Chaos welches geben sollte und aus meinem eigenen war ich schon entfernt. Den Halt in Frankfurt verbrachte ich im Restaurant. Ich hätte mit den 4.000 Mark einfach aussteigen und abhauen können. Als ich auf polnischem Boden zu meinem Gepäck zurückkam, waren Vater und Tochter so durchrelaxt wie nur irgend denkbar. Okay, dachte ich, fuck it. Ich las in ein oder zwei Artikeln über Quantengruppen und Nicht-kommutative Geometrie, eine Erweiterung der Heisenbergschen Unschärferelation. Ich legte mich auf mein Bett und schlief.

Dann traf ich Thomas. Er war im Nachbarabteil und sprach russisch, so daß er für mich übersetzen mußte. Wir gingen ins Restaurant, aßen und tranken und Thomas erzählte ein bißchen von Moskau. Er fuhr für den ganzen Winter hin und hatte Freunde da. Wir waren betrunken und gingen schlafen. Am Abend versuchte ich, den Fahrplan zu enträtseln, wir hatten in Warschau eine Stunde wie geplant gestanden und in Brest waren zwei vorgesehen oder es gab eine Zeitumstellung. Wahrscheinlich beides, meinte Thomas: zwei Stunden sind lang, selbst wenn sie die Räder wechseln, und grinste. Idiot, sagte ich mir. Daß sie die Räder wechseln mitten in der Nacht in Brest, wußte ich da noch nicht. Daß die Rückfahrt ganz anders werden würde, wußte ich natürlich auch nicht.

Wir verbrachten von da an die Hälfte unserer Zeit im Speisewagen. Am zweiten Tag am Nachmittag aß ich mit Thomas, wir tranken eine Flasche Champagner, sein Kollege aus dem Abteil kam dazu. Er fuhr nach Hause, Armenien. Sein Vater kämpfte dort im Bürgerkrieg und der Sohn wollte ihn überreden, nach Stuttgart zu kommen. Wir bestellten eine Flasche Wodka und ich lernte Wodka zu trinken: das man ihn löschen muß. Auch auf der Rückfahrt war ein Armenier im Waggon, er kam dauernd in unser Abteil und war ernsthaft beleidigt, daß ich nicht durchgehend mit ihm trank oder er kam nur wegen Natascha, die jung ist, in Berlin lebt und übersetzen mußte. Thomas wollte vielleicht eine Dissertation über Neuen Moskauer Konzeptualismus schreiben, eine Literatursache. Wir waren schon Stunden im Speisewagen. Es herrschte eine Ruhe, die es sonst in meinem Leben nicht gab, wir saßen im Speisewagen, aßen und tranken und fuhren durch die Landschaft, die sich kaum verändert hatte, abgesehen davon, daß hier viel weniger Menschen lebten als bei uns. Wir waren betrunken und legten uns hin. Der Vater in meinem Abteil schlief mit bloßem Oberkörper. Jetzt merkte ich erst, daß es sehr warm geworden war. In den langen Kurven sah ich, wie die Sonne die großen Blechflächen des Zuges glänzen ließ und durch die Fenster kam ein warmer Wind. Auch ich schlief mit bloßem Oberkörper. Am frühen Abend ging ich mit Thomas wieder ins Restaurant, wir tranken Kaffee. Es gefiel mir nicht, daß auf der Rückfahrt ein Fernseher im Restaurant stand. Ich hatte da zudem kein Bargeld mehr, mit den letzten US-Dollar mußte ich in Brest einen Grenzsoldaten schmieren, weil mein Visum um sechs Stunden überzogen war. Genauer gesagt, Natascha hat das gemacht. Danach fand ich noch zehn Schweizer Franken, die der Kellner zwar nahm, aber er kannte Schweizer Franken nicht und gab mir mißtrauisch bloß etwas Käse und Brot. Natascha kam nicht auf die Idee, mir Geld zu leihen und die Langsamkeit im Speisewagen war weg, zum Käsebrot gab es Musikclips, ganz MTV-like. Ich war überrascht: Russisch gibt einen ausgezeichneten Rap.

In den letzten Stunden vor Moskau zog der Kellner die Vorhänge an den Tischen zu, wegen Steinwürfen, übersetzte Thomas seine Erklärung. Es würde aber wenn dann geschossen, fügte er für mich hinzu. Es hatte etwas abgekühlt, wir tranken Bier. Man sieht sehr wenig bei der Einfahrt in die Stadt, da der Zug in einer kleinen Schneise fährt in die man die Gleise gebaut hat, am Ende stehen links und rechts einige Wohnhäuser, zu denen man aufblickt. Es war abend, elf Uhr. Ich glaubte zu erkennen, daß die Stadt ähnlich spärlich beleuchtet sei wie Ostberlin, im Vergleich zum Westen. Thomas zitierte einen Schriftsteller, der vor hundert Jahren von Deutschland nach Moskau gefahren war und über das Lichtermeer berichtet hatte. Thomas gab mir die Telefonnummern seiner beiden besten Freunde und ich rief ihn während der Konferenzwoche an und verbrachte drei freie Tage mit ihm.

Am Bjelorusskaja stand ein Student der Moscow State mit meinem Namen auf einem Pappschild, wir gingen an Marx und Lenin Büsten vorbei durch einen Seitenausgang auf den Vorplatz. Er war von Millionen Menschen bevölkert. Es war warm. Wir fuhren eine der sechs- oder achtspurigen Straßen zum Fluß hinunter. Ich erkannte das Weiße Haus und der Student deutete mit den Händen an, daß hier die Panzer gestanden hätten, als wir über den Fluß fuhren. Last year! lachte er mit zur Pistole gestrecktem Zeigefinger und Daumen der rechten Hand und wir verließen die Stadt zwischen riesigen Blöcken in einem Automeer.








last update: 2.3.1997

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