Peter L. Berger: Die Grenzen der Gemeinschaft

Ulrich Gutmair


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Der Bertelsmann Konzern gehört zu den Global Players im weltweiten Mediengeschäft. Wie wir wissen, tragen die Medien ihren Teil dazu bei, daß die Welt so ist, wie sie ist, und daß das auch in Zukunft so bleibt. Bertelsmann verfügt über einen Think Tank, der darüber nachdenkt, warum trotzdem noch nicht alles so funktioniert, wie es sollte. Das Referat "Geistige Orientierung" der Bertelsmann Stiftung hat den Auftrag, "Krisen zu überwinden, die mit dem Wandel der Werte und dem Verlust von Sinnhorizonten eng verbunden sind." Der Einfluß von Religion, Familie und Staat sinke. Daher müssten Konflikte zwischen verschiedenen Orientierungsangeboten am Markt ausgetragen werden, so die Stiftung. Wenn Lebensziele und Inhalte im Pluralismus aber miteinander konkurrieren, seien die Eliten gefordert, der Gesellschaft wirksame Orientierungen zu vermitteln. Eine Orientierung, die sinnvolle Lebenskonzepte für den Einzelnen mit der Gemeinschaftsfähigkeit der Gesellschaft verbindet. Soweit die generelle Idee des allgemeinen Werteverfalls, die der kulturpessimistisch-konservativen Analyse folgt, daß nicht etwa die Logik des Markts, sondern der Verlust von Werten die Ursache einer allgemeinen Krise ist.

Ziel des Unternehmens "Geistige Orientierung" sei es, die kulturellen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zu bewahren, so Werner Weidenfeld, Vorstandsmitglied der Stiftung. Analog zu fossilen Brennstoffen oder brasilianischen Regenwäldern gilt es auch die kulturellen Ressourcen der Menschheit zu bewahren. Es ist wohl unternehmerischer Logik zuzuschreiben, wenn Kultur hier nicht als Prozess, sondern als Rohstoff verstanden wird. Tatsächlich hat Bertelsmann mit dem Projekt "Geistige Orientierung" vor allem Pragmatisches im Sinn. Es geht unter anderem darum, vermittelnde Institutionen in kulturellen Konflikten innerhalb von Gesellschaften zu finden und zu unterstützen.

So beauftragte das Referat für Geistige Orientierung den amerikanischen Soziologen Peter L. Berger, den jüngsten Bericht an den Club of Rome herauszugeben. "Die Grenzen der Gemeinschaft", so der Titel des Berichts, beinhaltet elf Studien aus elf Ländern beinhaltet. Das Zweite Deutsche Fernsehen flog Berger unlängst ein, um in kleiner Talkrunde unter anderem die Grenzen der Gemeinschaft zu diskutieren.

convex tv. befragte den Soziologen im Shuttle auf dem Weg ins Studio.

Berger:

"Es handelt sich auf der praktische Ebene vor allem darum, Institutionen zu finden, die in solchen Konflikten vermitteln können. Ich habe den Bericht, und das trifft wohl auch auf Bertelsmann zu, mit einem starken positiven Vorurteil begonnen zugunsten intermediärer Institutionen, Institutionen der Zivilgesellschaft. Im Lauf der Studie hat sich aber gezeigt, daß das zu einfach ist. Es gibt intermediäre Institutionen, die vermitteln, aber es gibt auch andere, die polarisieren.

Und das ist wichtig: Man kann nicht nur sagen, es gibt bestimmte Typen von Institutionen, die vermitteln, sondern muß fragen, welche Werte diese Institutionen bestimmen. Nehmen wir die Medien zum Beispiel, in den USA haben sie ziemlich versagt als vermittelnde Instanz, sie sind gespalten zwischen den beiden Lagern. In der Türkei dagegen spielen die Medien eine ausgezeichnete Rolle, durch Konferenzen und andere Formen des Dialogs zwischen Laizisten und Islamisten zu vermitteln.

Berger:

"Der Bericht umfaßt eine Reihe von Studien aus verschiedenen Ländern über das, was wir normative Konflikte nannten: Konflikte, die nicht zwischen Interessengruppen stattfinden, wie etwa Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern Konflikte, bei denen es sich um grundlegende Unterschiede handelt in moralischen, philosophischen Fragen in einer Gesellschaft: Was ist die Gesellschaft eigentlich?"

Mit den praktischen Fragen im Zusammenhang mit normativen Konflikten sollte sich der Bericht beschäftigen. Da verwundert es, daß sich die deutsche Studie von Franz-Xaver Kaufmann über die aktuellen Konflikte im Lande ausschweigt. Eine magere Seite widmet er "ethnischen Konflikten" in Deutschland, Hinweise auf Rassismus und die Stichworte Rostock, Solingen, Mölln sucht man vergebliah. Hierzu Peter Berger:

"Am Anfang war Franz-Xaver Kaufmann, der den deutschen Bericht gemacht hat, beinahe der Dissident der Gruppe: Er hat anfangs gesagt, in Deutschland ist das alles gelöst durch die korporatistische Struktur der Gesellschaft. Normative Konflikte werden zu Interessenkonflikten, etwa wie am Beispiel der Grünen zu sehen. Ursprünglich Opposition, jetzt eher Teil des Systems. Im Verlauf der Studie hat Kaufmann seine Positionen etwas modifiziert, aber ich würde auch sagen, das ist ein etwas zu rosiges Bild der deutschen Gesellschaft....

Berger:

"In allen westeuropäischen Ländern ist die Einwanderung ein sehr entscheidendes normatives Problem, und das kann man nicht einfach mit Rassismus und anderen psychologisch unerfreulichen Faktoren erklären. Ich habe letztes Jahr einen Vortrag in Österreich gehalten und das Grundproblem dort so definiert: Man muß sich klarwerden: Was ist ein schwarzer Tiroler? Und damit meine ich nicht einen Tiroler der die österreichische Volkspartei wählt, sondern einen Tiroler mit schwarzer Hautfarbe. Jemand, der in Innsbruck geboren ist, nur deutsch spricht mit Tiroler Akzent und österreichischer Staatsbürger ist: Was ist dieser Mann? Diese Frage führt dann aber direkt zur Frage: Was ist denn eigentlich ein Österreicher? Wer sind wir? Also wie wird die Gemeinschaft, die im Nationalstaat verkörpert ist, definiert. Und das ist nicht eine Frage für verrückte Faschisten rechtsaußen, sondern eine Frage, die die ganze Gesellschaft beantworten muß....

Berger:

"Die wirkliche Frage ist nicht, wie kann man mit dem Islam in Deutschland auskommen, sondern was ist überhaupt deutsche Kultur. Ist die deutsche Kultur fähig, eine andere Religion, die außerhalb der Geschichte dieses Landes gestanden hat, einzuverleiben oder nicht. Das ist eine lebenswichtige Frage. Die Parole, Deutschland sei kein Einwanderungsland ist eine illusionistische Rhetorik. Deutschland ist ein Einwanderungsland und wird es auch bleiben, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Ich würde sagen, daß es im westlichen Europa ganz besonders wichtig ist, daß der Islam akzeptiert wird als Bestandteil dieser Kultur. Das bedeutet eine erhebliche Modifizierung der Vorstellungen, die aus der Vergangenheit kommen."

Wenn es um die Frage der Geistigen Orientierung geht, sieht Bergers Befund also anders aus, als sich Bertelsmann das vorgestellt haben könnte. Anstatt die ominösen Werte einer neuen geistigen Orientierung einzufordern, richtet Berger an die Gesellschaft den Appell, liebgewonnene Werte vor dem Hintergrund einer neuen Situation zu hinterfragen.

Zusammen mit seinem Kollegen Thomas Luckmann hatte Berger 1966 "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" publiziert. Das mittlerweile zum Klassiker gewordene Werk beschäftigte sich mit der Konstruktion und Überlieferung von Identität und Sinn in der Gesellschaft und richtete sich gegen die marxistische Ableitung von Wissen und Ideologie aus der ökonomischen Basis:

Berger:

"Luckmann und ich - und ich glaub das liegt im Wesen der soziologischen Perspektive - haben argumentiert daß Gesellschaft durch Interpretationen konstruiert wird und daß man die Gesellschaft nicht verstehen kann ohne diesen Konstruktionsprozess zu verstehen."

Die Institutionen Familie, Schule und Religion, die traditionell für diese Interpretationen maßgeblich verantwortlich waren, sind gegenüber den Medien längst ins Hintertreffen geraten. Es sind Medienkonzerne wie Bertelsmann, die die Welt für uns interpretieren und konstruieren. In ihrer Konstruktion der Wirklichkeit dominieren Werbeblöcke das gesellschaftliche Bewußtsein. Das produziert auch Sinn, löst aber keine Probleme. Auch wenn es um die Produktion von Nachrichten geht, schneiden die Massenmedien schlecht ab. Wenn die gesellschaftlichen Anderen auftauchen, dann gerne als kriminelle Ausländer in dubiosen Statistiken. Umgekehrt ist Rassismus in den meisten Redaktionen immer noch ein Fremdwort. Wenn ein Unternehmen wie Bertelsmann der Gesellschaft einen Dienst erweisen will, wäre ein scharfer Blick ins eigene Programm vermutlich hilfreicher, als kiloschwere Wälzer herauszugeben, die lediglich als gutes Gewissen etwas taugen. Das Dilemma des Pluralismus ist ohnehin nie zu lösen:

Berger:

"Dadurch, daß die Selbstverständlichkeit gemeinsamer Werte durch die moderne Entwicklung in Frage gestellt wird, hat der einzelne viel mehr Flexibilität, man kann auch sagen: Mehr Freiheit. Da ist schon etwas dran, wenn man sagt: Jeder macht sich die eigene Kultur. Insofern als der einzelne heute die Möglichkeit hat, sich selbst ein Weltbild und seinen Lebensstil zusammenzubasteln, wie es früher viel schwerer war. Aber damit ist der einzelne auch überfordert, jedenfalls die meisten einzelnen sind damit überfordert. Dadurch entsteht eine gewisse Dialektik zwischen einerseits dem Taumel der Freiheit, sich seinen eigenen Lebensstil konstruieren zu können, und der gewaltigen Sehnsucht nach einer objektiven Ordnung, weil man sich durch diese Freiheit überfordert fühlt. Diese Dialektik sieht man überall."


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