»Man kommt durch«
Diedrich Diederichsen und der lange Weg nach Mitte

Stephanie Wurster und Kito Nedo


[listen]

»Der lange Weg nach Derendorf« - das ist ein Song der 70er Punkband
Mittagspause: Darin geht es um den RAF-Terroristen Willy-Peter Stoll, der im Düsseldorfer Stadtteil Derendorf erschossen wurde. »Es ist ein langer Weg, er ist noch nicht zu Ende, auch wenn es mancher hofft.«

In Diedrich Diederichsens neuem Buch »Der lange Weg nach Mitte«
symbolisiert Stolls Erschießung (Zitat) »das Scheitern eines politischen Aufbruchs an der nächsten Straßenecke, eine Allegorie des Nicht-Weit-Kommens.«

Darum geht es in diesem Buch: Wo hat Pop angefangen und wo ist Pop jetzt? »Der lange Weg nach Mitte« ist eine Sammlung von zum Teil bereits veröffentlichten Texten aus den letzten Jahren. Anhand von Themenkreisen wie Stadt, Politik und Musik setzt sich Diederichsen mit Entwicklungen des Popbegriffs in den neunziger Jahren auseinander.

Diederichsen meint, daß Pop nicht weit gekommen ist. Gerade mal nach
Berlin-Mitte - das ist die zweite Metapher, die im Titel steckt.

In Berlin-Mitte ergänzen sich Subkultur und die »Politik der neuen Mitte« im Dienste des Hauptstadtmarketings scheinbar harmonisch. Hier ist Pop nicht mehr politisch oder subversiv und Politik wird leichtfertig zu Pop erklärt. Das ist nicht mehr der »klassische« Popbegriff der 50er bis 80er Jahre.

Diederichsen: »Mittlerweile habe ich das Gefühl, daß in Diskursen wie Theater, Literatur, aber auch bildende Kunst (obwohl da etwas weniger), Pop die Funktion übernommen hat, die früher der Gegenwartsbezug hatte. Vor zwanzig Jahren mußte alles einen Gegenwartsbezug haben, und das war gekennzeichnet durch Vietnam oder schwer erziehbare Kinder... Das waren so die markanten Kennzeichnen, einem Ballett oder einem Roman oder einem Gegenstand, der sonst nicht so viel damit zu tun hatte, den Gegenwartsbezug zu initiieren. Heute hat diese Funktion Pop übernommen. Das ist diesen Objekten natürlich vollkommen äußerlich. Das hat, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nichts mit den Sachen selbst zu tun. Das wird einfach nur behauptet.«

Pop hat also eine andere Funktion übernommen. Was sind die Gründe dafür? Wir denken an das »Talkshow-Phänomen«, die verstärkte Kommunikation zwischen Öffentlichkeit und Subkulturen (Stichwort Love Parade) und die Vervielfachung und Überlagerung von Popkulturen. Nicht zu vergessen die zunehmende Auflösung von konventionellen Gruppen- und Gemeinschaftsformen:

(Zitat aus dem Buch) »Gruppen, Szenen, Minderheiten, Zirkel und Cliquen stellen ihren spezifischen Weltzugang über jeden anderen, verabsolutieren seine Mittel - Drogen, Sex, Theorie, Aktion, Kontemplation, Schmerz, Nüchternheit und deren spezialisierte Ableitungen. Und erklären ihre Methoden und Ergebnisse als die einzig möglichen oder zumindest am weitesten fortgeschrittenen.«

Die Grenzen von Subkulturen lösen sich zunehmend auf. Übrig bleibt ein
subjektiver Zugang zur Popkultur. Wie geht ein pragmatischer Theoretiker wie Diederichsen damit um? Er nennt die entstandenen Phänomene einfach Pop II. Das ist Anknüpfung und skeptische Weiterentwicklung zugleich.

Diederichsen: »Pop II ist ein vorläufiger Begriff dafür, um einfach mal einen Schnitt zu machen, und zu sagen: Man muß jetzt mal unterscheiden zwischen den Dingen, die eine Zeitlang mit Fug und Recht - und für die Beteiligten verständlich- Pop genannt worden sind, und all dem, was heute so heißt. Was heute so heißt, das sind auch viele verschiedene Dinge, aber ich nenne sie jetzt mal, um sie gemeinsam zu unterscheiden von der alten Verwendung des Begriffs, Pop II.
Mir wäre es lieber, wenn man auch darauf demnächst verzichten könnte und wieder sortieren. Das ist sicherlich auch bald der Fall. In Zeiten, wo
politisch offensichtlich nicht soviel machbar ist, ist der Verweis auf die politische Realität irgendwie unerfreulich. Um aber trotzdem irgendwie einen Außenbezug hinzukriegen, ohne Außenbezug funktioniert gar nichts, ist gar nichts attraktiv, macht man halt einen anderen Außenbezug, zu einer vermeintlichen anderen Kultur, die wir hier noch so haben - die Popkultur. Jedoch: Da alles dazugehört, ist das gar keine andere Kultur, ist es gar kein Außenbezug mehr - wenn das irgendwann mal alle begriffen haben, ist das eh den Wärmetod gestorben.«

Jeder und alles kann heute ein »Held der Popkultur« sein. Pop ist in den
90ern Mainstream geworden. Es ist schwer, der neuen Kumpelhaftigkeit in Medien und Politik zu entkommen. Um Pop zurück in die Praxis zu holen, fordert Diederichsen eine »Fan-Wissenschaft«:

Diederichsen: »Wenn man diese Inflation des Begriffs und alles, was da
dranhängt an Investitionen, nutzbar machen will, dann sollte man
einerseits Wissenschaft betreiben, aber andererseits sollte es eine
Wissenschaft sein, die von Fans kommt.«

Es kann nicht funktionieren, die Kritik der Subkulturen, die inzwischen
selber allgemeiner Konsens sind, rein theoretisch zu betreiben. Pop wirkt unmittelbar. Sollte das daher nicht auch emphatisch, praxisbezogen vermittelt werden?

Diederichsen: »Wenn also ich sage, Wissenschaft, dann meine ich, daß man einerseits jetzt nicht zurückfällt in diese nerdhafte Begeisterung, Katalogisierung und Diskographien-Schreiberei (mit Wissenschaft meine ich etwas Anspruchsvolleres). Auf der anderen Seite, von Fans, meine ich, von Leuten, die zumindest noch rekonstruieren können, was es bedeutet, ein Fan zu sein. Daß ein Fan eine grundsätzlich andere Perspektive hat. Daß die Kommunikation, die ein Fan mit Popmusik, aber auch mit anderen Künsten hat, eine andere ist, als einfach nur eine irrationale Begeisterung oder irrationales Sammeln von Gegenständen, sondern daß da ganz bestimmte kommunikative, psychologische, aber auch interpretierende, hermeneutische Vorgänge stattgefunden haben. Das muß man sozusagen noch wissen. Man muß nicht mehr selber so weit sein, daß man das noch ständig so erlebt. Aber man muß es noch rekonstruieren können - um eben diesem Phänomen gerecht zu werden. Womit ich nicht meine, daß man beim Wissenschaft-Treiben Fan sein soll, aber man soll der Perspektive des Fans gerecht werden, weil man sonst nämlich kulturwissenschaftlich verliert, was da eigentlich im Detail passiert. Deswegen denke ich, eine Wissenschaft, die von Leuten betrieben wird, die im Leben mal Fan gewesen sind, das sozusagen ausweisen können. Heutzutage muß ein Professor ausweisen, daß er fünf Jahre in der Praxis gearbeitet hat. Wer als Soziologe eine C-4 Professur haben will, muß zeigen, daß er auch schon mal Statistik gemacht hat oder Marktforschung gemacht hat oder Lehrer war, oder sonstwas. Ich denke, wer sich wissenschaftlich mit Popkultur beschäftigt, muß nachweisen, fünf Jahre Fan gewesen zu sein...«

Und im übrigen gilt dasselbe, was auch für das Buchcover gilt:

Diederichsen: »Naja, das ist der Potsdamer Platz im Bau. Das ist der Weg, den es früher mal gab, da durch. Das ist keine dead end street. Man kommt durch.«

So weit, so gut. Diederichsen beschreibt, wo wir jetzt angekommen sind. Das macht er, wie immer, fundiert und unterhaltsam. Doch die Schärfe früherer Texte fehlt, gerade »nicht denen ihr Spiel zu spielen«, wie es in »Sexbeat« von 1985 gefordert wird. Daß wir (Zitat) »in finsteren Zeiten leben«, daß Berlin-Mitte, wie wir es schon wissen, ein (Zitat) »schwarzes Loch« ist, daß (Zitat) »politische Aktivität zur Zeit bestenfalls den politischen Diskurs und die Datenlage, auf die er sich bezieht, verbessert.« - das ahnten wir schon.

Nein, Diedrichsen geht nicht die Auguststraße auf und ab, das sieht er
nicht als seine Aufgabe an.

Diederichsen: »Die Reportagen über die Auguststraße, die Reportagen über die Berliner Kunstwelt der späten Neunziger die sind längst geschrieben. Sogar ich hab mal eine geschrieben. Das ist ja fertig. Das ist ja nicht mehr der Punkt.«

Diederichsen beschreibt die Diversifizierung und
Überlagerung der Subkulturen. Das ist eine groß angelegte und gutgemeinte Geste. Aber auch nicht mehr als das. Die Konsequenz aber wäre gewesen, »Den langen Weg nach Mitte« eben nicht zu schreiben. Sondern ganz mutig auf die Phänomene herunterzuzoomen. Denn wer
soll die Basisarbeit sonst tun, wenn nicht unser »Popprofessor«? Was nützt eine Beschreibung der subkulturellen Niederungen von der hohen Warte aus? Gerade, wenn diese Kultur sowieso schon bis zur Unkenntlichkeit vom Mainstream überlagert ist.

Diederichsen hätte doch besser die Auguststraße ablaufen sollen.

mail to: Kito Nedo

e-mail an die Redaktion

COPYRIGHT NOTICE: Das Copyright der unter 'convex tv.' digital veröffentlichten Texte liegt bei den an gegebener Stelle angeführten AutorInnen. Die abgelegten Texte dürfen für den individuellen, nicht-kommerziellen und privaten Gebrauch heruntergeladen werden, wobei Copyright und Trademark angeführter AutorInnen, Organisationen und Produkte durch Dritte zu respektieren sind.

Publikation, Weiterleitung und kommerzielle Verwertung der Texte oder Auszüge derselben sind ohne Einvernehmen der AutorInnen untersagt.

Die Meinungsäußerungen der AutorInnen, sowie Zitationen sind nicht deckungsgleich mit der Meinung der 'convex tv.' Redaktion. 'convex tv.' ist nicht für den Inhalt und dessen Umgang mit Dritten, Copyright Regulationen und anderen Gesetzen verantwortlich.