5.januar 1997





Nicolas Collins: "...it could no longer mute anything".

Martin Conrads


[text als audiofile]


#"Locatelli", ein Stück des US-amerikanischen Komponisten und Musikers Nicolas Collins, das er 1992 gemeinsam mit dem Soldier String Quartett einspielte. Was sich anhört wie eine defekte CD, stellt sich als Bearbeitung eines Streichquartetts des italienischen Barockkomponisten Pietro Locatelli mit dem CD-Spieler heraus. Collins, der 1954 in New York geboren wurde, und zur Zeit mit einem DAAD-Stipendium in Berlin wohnt, geht in seiner musikalischen Arbeit souverän mit einem Leitmotif Neuer Musik um: Dem Satz von John Cage, wonach "jeder Klang ein musikalischer Klang sein kann".

Collins studierte er in den 70er Jahren Komposition bei Alvin Lucier und arbeitete mit John Cage und David Tudor zusammen. Gleichzeitig setzte er sich mit Synthesizern auseinander und trat mit New Yorker Avantgardegrößen wie John Zorn, Elliott Sharp oder Tom Cora auf. Das eben gehörte CD-Scratchen, ist dabei nur eine von vielen musikalischen Techniken, die Collins anwendet.

#Collins O-Ton:
Mit dem CD-Scratchen begann ich etwa 1988 oder 89, zu dieser Zeit benutzte ich diese Technik oft in Live-Performances. Es schien mir sehr interessant, denn live spiele ich meistens Stücke, die auf gefundenem Klangmaterial aufgebaut sind, das ich dann bearbeite. Im Prinzip hat ja alles, was ich mache, etwas damit zu tun, daß ich etwas in eine Maschine hineinstecke, was auf der anderen Seite als Variation wieder herauskommt. Früher habe ich sehr viel mit Bändern gearbeitet, ich habe dann zwei verschiedene Klänge auf den rechten und den linken Kanal gelegt und das Material nach dem Zufallsprinzip bearbeitet; man wußte allerdings nie, was dabei herauskommt. Die CD-Spieler konnte ich sehr leicht kontrollieren. Ich habe einige Modifikationen an den Geräten vorgenommen, um zu sehen, ob man Cds etwa so bearbeiten kann, wie eine LP beim Scratchen. So bin ich in das Innere des CD-Spielers vorgedrungen, denn ich vermutete richtig, daß der Laser immer Informationen abscannt, also auch, wenn die CD auf Pause gestellt ist oder eine bestimmte Stelle gesucht wird. Der Kontrollcomputer denkt dann: "Unter bestimmten Umständen soll nichts gehött werden". Und das nur, weil der Klang in solchen Momenten als besonders störend gilt. Ich habe das Kontrollsignal gefunden, das über "on" und "off" bestimmt und es so manipuliert, daß nun jede Operation hörbar wurde. Und das war tatsächlich wie die innere Welt der CD. Mit anderen Worten: man konnte plötzlich hören, wie der CD-Spieler arbeitet.

#Gelangweilt von ästhetischen Normen erfand Collins eine Reihe völlig neuer Musikinstrumente. Am bekanntesten wurden seine "trombone-propelled electronics", erzeugt auf einer Posaune, die er 1986 für 12 Dollar auf einem Flohmarkt erstand und komplett umrüstete: Das Mundstück ersetzte Collins durch ein Mikrophon und am Posaunenzug ist eine Art Telefontastatur befestigt, mit der verschiedene Samples aus dem Rechner angewählt werden können. Der Vorteil dieses Instrumentes besteht darin, daß es in einer Feedbackschleife interaktiv auf die selbst erzeugten Töne reagieren kann, es ist also Lautsprecher und Mikrophon zugleich, wie Collins demonstriert:

#O-Ton: Posaunenexempel von Collins

#Collins sieht sein eigenes Werk "zwischen purer akustischer Präsenz und vetrackter kultureller Bedeutung" - eine Bekundung , die sich aus seinem Studium bei Alvin Lucier verstehen läßt:

#O-Ton Collins:
Durch die 6 Jahre, die ich mit Alvin Lucier verbrachte, bin ich sehr an der Interaktion von Klangquelle und akustischem Raum interessiert. Einige meiner Stücke demonstrieren das, und das ist der Grund, warum dieses Instrument in meiner Musik auch weiterhin eine so wichtige Rolle spielt. Mit der Posaune habe ich einen Lautsprecher, den ich auf eine bestimmte Stelle im Raum ausrichten kann, eine Klanquelle, die nicht passiv ist, weil sich der Klang mit der Stellung im Raum verändert. In gewisser Weise hat dies auch etwas pädagogisches, denn ich zeige den Zuhörern, daß ein Lautsprecher nicht nur ein passiver Klangkörper ist. Auch soll der Zuhörer nicht glauben, daß der Komponist in unmittelbarer Verbindung zum Klang steht, der aus dem Lautprecher kommt. Genauso ist es mit der Kommunikation des Komponisten mit dem Raum. Im letzten Jahr habe ich einen Essay geschrieben, der auf Gedanken von Glenn Gould über die Zukunft des Aufzeichnens von Klang basiert. Darin beschreibe ich, wie für die meisten Komponisten -bis Lucier- die letzte Kontrollinstanz über den Ton immer das Musikinstrument war, in dem Glauben, wenn der Ton das Instrument erst einmal verlassen hat, kann er nicht mehr moduliert werden. Lucier war es dann, der den Fokus gerade auf die Möäglichlkeiten des Raumes richtete, darauf, was mit dem Ton im Raum passiert. Sein Ziel war, den Raum zu emanzipieren, so daß er Teil der Komposition wird. Und genau an diesem Gedanken möchte ich weiterarbeiten, indem ich versuche, die Kluft zwischen dem klangerzeugenden Instrument und dem akustischen Raum zu schließen

#Lucier hatte 1969 mit "I am Sitting in a Room" versucht, den Raum als Klangkörper zu nutzen. Das Stück bestand aus einer gesprochenen Wortfolge, die mit dem Raum rückgekoppelt wurde. In einer Feedbackschleife wurde sie dann so lange wiederaufgenommen,bis sich die textliche Bedeutung in Rauschen verlor:

#Excerpt aus Alvin Lucier: "I am Sitting in a Room", Lovely Music, Ltd., 1990.

#Die zentrale Aussage von Luciers Stück, das Bewußtsein über die Kommunikation mit dem Raum, erfährt in den 90er Jahren eine neue Aktualität. Nicht zuletzt die Rede von Interaktivität und kybernetischem Raum stellen Modelle struktureller Rückkoppelung als zentralen kulturellen Modus dar. Jedoch scheint die Vorstellung von Interaktivität nur mit sensomotorischem Einklang und standardisierter Funktionalität verbunden zu sein. Collins' musikalische Umsetzung dieser Thematik geht sehr bewußt vor - eine Umdefinition von technologischem Effekt und ästhetischem Sinn gleichermaßen.

#O-Ton Collins:
Die Menschen scheinen mit ihrem Sound System nur selten interagieren zu wollen, und wenn, dann ist es als negative Interaktion definiert: Nur wenn etwas außer Kontrolle zu sein scheint, springen sie auf und wollen den Fehler beheben. Es ist unglaublich schwierig, jemanden dazu zu bringen, positiv zu interagieren. Nimm meine CD "100 of the World's most beautiful melodies". Sie enthält vierundvierzig sehr kurze Stücke. Im Begleitheft schrieb ich, daß meine gewählte Reihenfolge nur eine von vielen Möglichkeiten darstellt, und daß sie der Zuhörer stattdessen auf Zufallsmodus stellen sollte, oder eine Version abspielen, auf der z.B. nur die Stücke mit Gitarre zu hören sind. Ehrlich gesagt glaube ich aber nicht, daß das sehr viele Leute getan haben.

#Collins arbeitet an der Schnittstelle von akustischem Mißverständnis und kultureller Aneignung. Sein Umgang mit Technik ist ebenso poetisch wie avanciert, was ihn mit Musikern wie Jim O'Rourke und Microstoria zusammenbringt.
Wie fragil und vielseitig die Strukturen sind, die er aufgreift und produziert, ist auf genannter CD "Onehundred of the World's Most Beautiful Melodies" aus dem Jahr 1989 zu hören. In impovisierten Duetten mit 15 verschiedenen Musikern, bearbeitet er seine Posaune in immer neuen Variationen. Als Beispiel vier Duette: in der Reihenfolge mit Ben Neill, Christian Marclay, Elliott Sharp und Peter Cusack.

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Das vollständige Interview mit Nicolas Collins ist hier nachzulesen.

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