5.januar 1997





Podvigoj Popoj! Beweg deinen Hintern!

Ulrich Gutmair/Benjamin Beck


[text als audiofile]


"Ein Gespenst geht um in Rußland: Die Popkultur, die sich als Totengräberin der Kultur bereitwillig anbietet. In einem der kulturell am meisten entwickelten Staaten - wie wir aus irgendeinem Grund bis heute glauben - hat ein unblutiger kultureller Umsturz stattgefunden. Seriöse Literatur, ernsthafte Musik, professionelle Theateraufführungen und durchdachte Filme finden sich jetzt an der Peripherie des gesellschaftlichen Bewußtseins wieder. Der Rest ist Showbusiness." (Iswestija)

(Linda: Ljap, Ljap, Ljap - angespielt; Referenzliste am Ende des Textes)

Hochgeschwindigkeitsrolltreppen katapultieren den Reisenden aus den imperialen Hallen der Metro direkt in das Getümmel der allgegenwärtigen Märkte. Sie bilden heute die ökonomischen und sozialen Zentren des postsowjetischen Rußland, das öffentliche Räume im westlichen Sinn immer noch vermissen läßt. Das Leben findet hier traditionell nicht in Cafes oder Bars, sondern zum größten Teil in geschützten privaten Räumen statt. Die Märkte mit ihren kleinen hölzernen Buden sind gleichzeitig die wenigen öffentlichen Orte, an denen sich die neue russische Popkultur manifestiert.

Neben den Kiosken, die Kleidung, billige Unterhaltungselektronik und westliche Sportswear verkaufen, dröhnen die neuesten Hits aus den Buden, die CDís und Kassetten anbieten. Ivanuschki International, Mister Boss und Dschimmi Dschi, radiotrance und die anderen russischen Stars, die angloamerikanischen Pop inzwischen abgelöst haben. Die Kids informieren sich hier über das Angebot an Kassetten, die das Medium Nummer Eins für Pop in Russland sind, und verwandeln die Marktplätze auch schon mal in eine Freiluftdisko.

(Ivanuschki: Malina - angespielt; Referenzliste am Ende des Textes)

Ivanuschki International verbinden westliche Housemusik mit mehrstimmig vorgetragenen russischen Melodien und sind die Superstars des neuen russischenpostsowjetischen Pop. Keine Imbißbude ohne den Sound des dreieinigen Sexsymbols der Zukunft, wie die Iswestija sie genannt hat. Ivanuschki sind die Backstreet Boys des postsowjetischen Imperiums, Stars für die ganze Familie - vor allem aber natürlich für pubertierende Mädchen und ihre Mütter.

Diese Mädchen und Hausfrauen sind die erklärte Zielgruppe der russischen Popindustrie. 10.000 Dollar soll die Kreation eines Popstars kosten, meldete die Iswestija im Sommer. Damit kann man sich Produzenten, Videoclips und Airtime kaufen, und dank gutausgebildeter Musiker brauchen die Ergebnisse den Vergleich mit Westpop nicht zu scheuen. Wenn das Geld nicht reicht, wartet schließlich an jeder Ecke ein Sponsor.

Dschimmy Dschi und Mister Boss, die hiesigen Vertreter multikulturellen Eurotechnos, werben am Ende ihrer Platte für eine russische Gin-Marke.

(Mister Boss: Gin-Larios-Werbung - angespielt; Referenzliste am Ende des Textes)

In der letzten Saison belief sich der Umsatz im Popmusiksektor auf 100 Millionen Dollar. Einen vergleichbaren Stellenwert hat Pop vermutlich nur in England. Während sich dort aber in den letzten Jahrzehnten eine hochdifferenzierte Kulturindustrie entwickelt hat, befindet sich Pop in Rußland noch im Stadium des Manchesterkapitalismus. Dementsprechend sind russische Stars üblicherweise weniger Erfinder ausgeklügelter Identitätsmodelle als vielmehr Lohnarbeiter. Das haben sie mit der Mehrheit ihrer Konsumenten gemein, für die westlicher Lebensstandard nach wie vor unerreichbar ist.

In den großen Klubs Moskaus treffen Touristen auf sogenannte Neue Russen und Mafiosi, letztere kontrollieren ohnehin das kommerzielle Nachtleben. Erschwingliche Diskotheken sind dagegen Mangelware. Das Aquatoria ist einer dieser Clubs. Als ehemaliges Kulturhaus liegt es mit 8 Mark Eintritt auch in der Reichweite normaler Jugendlicher. Die 15 bis 20-jährigen Besucher amüsieren sich zu englischen und russischen Technostücken, die auf den ersten Blick alle die selbe Botschaft zu haben scheinen: Believe in the Future! und: Dwigoj Popoj!, Beweg deinen Hintern:

(Mister Boss: Podvigoj popoj - angespielt; Referenzliste am Ende des Textes)
(radiotrance: Kosmonaut - angespielt; Referenzliste am Ende des Textes)

Ein Hit nicht nur für diesen Abend ist "Kosmonaut" von radiotrance, ein stampfender Technotrack, dessen Refrain verkündet: "Wenn du wirklich willst, kannst du in den Kosmos fliegen!" Radiotrance operieren geschickt zwischen Technoekstase, Drogentransgression und den für die Mehrheit ihrer Hörer wohl schon mythischen Erfahrungen einer Sowjetkindheit in Form von Kinderliedsamples. Mit "Allzeit bereit!" wird das Motto der Pioniere für diese Blaupause von Techno Made in Moscow zitiert, einer Gebrauchsanweisung, die den Helden von Generationen, Kosmonaut Jurij Gagarin, zum Schutzheiligen einer sauberen Rave-Abfahrt macht. Trotzdem sind radiotrance weit davon entfernt, den Soundtrack zu eskapistischem Drogenkonsum und Sowjetnostalgie zu liefern. Es geht neben dem obligatorischen Spaßhaben unter anderem um ökologisches Bewußtsein:

In Opasnaja Zona - "Gefährliche Zone" - wird Tschernobyl als Level eines globalen Katastrophen-Videogames gelesen:

"Es bleiben Ihnen fünf Minuten, die gefährliche Zone zu verlassen! Fünf - vier - drei - zwo - eins! Sie habenís nicht geschafft!!" (radiotrance)

(radiotrance: opasnaja zona - angespielt; Referenzliste am Ende des Textes)

Die Kinder des Aquatoria haben die postsowjetische Zone bereits in Richtung Cyberpunk, Drum ëní Bass und HipHop verlassen, schließlich können die Moskauer DJs inzwischen auch auf Vinylimporte aus dem Westen zurückgreifen. Nur im Chill-out- Areal des Clubs scheinen sich alte Dissidenz und neue Konsumkritik zu verbünden. Dort hat ein Künstler auf Fotos Adolf Hitler und Marylin Monroe nachgestellt und das Logo eines auf den russischen Markt drängenden französischen Parfumherstellers mit Bildern aus dem Gulag kombiniert.

Auf ganz andere Weise reflektieren russische Gangsta Rapper ihren Alltag: Für junge Männer aus den zahlreichen, im Schlamm versinkenden Satellitenstädten bietet sich die Mafia oft als einziger Arbeitgeber an. Ein Heer jugendlicher Raketjori, die ihren Namen ihren Baseballschlägern verdanken, treibt allwöchentlich in nahezu jedem Geschäft der Stadt die Schutzgelder ein. Daß die Wahl zwischen Armut und Mafia immer als Verlustgeschäft endet, ist dabei allen klar. Während die Mehrzahl aktueller Popgruppen immer wieder eine unerreichbare Welt aus Glamour und Konsum reproduziert, spricht aus den Texten der Gangsta Rapper Tsche Rep die Resignation über das ausweglose Leben auf der Strasse:

"Kugeln fliegen schneller als Gedanken /
Unser Leben heißt: Es fliegen Kugeln /
Unser Leben besteht aus Scheißgedanken /
Daran, daß du nichts ändern kannst. /
Der neue Tag wird nichts dran ändern /
Hier ist meine schwarze Pistole /
Laß mich in Ruhe, vielleicht bist du als nächster dran!" (Tsch-Rap)

(Tsche-Rap: novy den - angespielt; Referenzliste am Ende des Textes)

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Musiktitel

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ivanuschki international: Koneschno on (Natuerlich er)
Label: Music Box

Seite A:
1. Vselennaja (Universums* 3. tutschi kak ljudi (Wolken wie Menschen 4. Ja schivu (Ich lebe) 5. Ona (Sie war ganz allein...)

Seite B:
6. Koneschno on (Natuerlich er) 7. Podsolnuch (Sonnenblumenkern) 8. Koletschko (Ringel) 9. Tuda i ja gde ty (Ich bin auch da wo du bist) 10. Sluschaj serdze mojo (Hoer mein Herz)

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Dschimmi Dschi & Mister Boss: Chadil daliko no ni naschol vyman...
Gala Records 1996; copyright: S.B.A. Records, Inc.

1. Tschudo Boss i tschudo Dschimmi (Wonder-Boss und Wonder-Jimmy) 2. Chodil daleko...( Ich ging weit...) 3. Podvigaj popoj (Beweg deinen Hintern) 4. Nascha datscha (Unsere Datscha)5. Devtschonki (Maedchen)6. Inna 7. Opa-opa 8. Technosex 9. Nascha datscha (house remix) 10. Megamix

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Sampler: Trapanazija 2:
Pavian Records 1996; p: NORD Records

Seite A:
Intro 1. K&K;: Dschanglbit 2. d.a.m.a.t.: samknuty krug (Teufelskreis) 3. ritm u: mir moich illjusii (die welt meiner illusionen) 4. gruskostej: pustota (Leere) 5. dead trap zone: Moskva

Seite B:
1. Tsche-Rap: Novy den (Ein neuer Tag), Teil 2 2. b.t.l.t.: vetscherinka (Party) 3. outro 4. (die estnischen Gaeste:) Da rabba bastards: keep tight 5. (rap archiv:) Master Spensor, young ice, white hot ice: krovavoe party 6. (fuer fans:) i.l.i.a.: guljat vsju notsch (die ganze nacht rumziehen)

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*Maxidance*-Sampler
ohne Jahr, AKU Records

1. Tschaste jest (Es gibt das Gl¸ck) - Dj Groove 2. Prostranstvo i vremja (Raum und Zeit) - Arrival 3. Ideal Love - Messmer 4. Kosmonavt - radiontrance 5. Tanzy na atomnoj stanzii (Tanz auf dem AKW) - Van Moo 6. Tchelovek - Sabake drug (Der Mensch ist der Freund des Hundes) - Russkij razmer 7. Disko, Disko - Tschugunny skorochod 8. Tschernaja luna (Schwarzer Mond) - Agata Kristi 9. Barby Light - Mega Bus 10. Zatschem nam Kusnez? (Wozu brauchen wir den Schmied?) - Rjabzev 11. Ljap, Ljap, Ljap - Linda 12. Relax - T.D.C.

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radiotrance: K zvezdam tscherez ternii (Durch Dornen zu den Sternen)
ohne Jahr, Music Box

Seite A:
1. Tscherez ternii k zvezdam 2. Kosmonavt (Kosmonaut) 3. Zemlja v ogne (Die Erde in Flammen) 4. Opasnaja zona (Gefahrenzone) 5. Krasnaja Schapotschka (Rotkaeppchen) Seite B:
1. Prygaj kak moschno vysche (spring so hoch du kannst) 2. Atmosfera 3. Ledjanoj mir (Eiswelt) 4. Gladiolus (Gladiole) 6. Vykljutschi svet (Schalt das Licht aus)



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- 5.januar 1997 -


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