2.februar 1997





Christophe Charles - undirected 1986-1996

Martin Conrads


[text als audiofile]


Ein Ausschnitt aus 'undirected 1986-1996', der neuen CD des Musikers Christophe Charles, soeben auf Mille Plateaux erschienen.

Das -technisch wie ästhetisch- Besondere an undirected ist, daß die CD sowohl als Audio CD im CD-Player, als auch als ROM auf einem Macintosh gelesen werden kann. Als Audio-CD besteht "undirected" aus einem 60-minütigen Track, der Tonaufnahmen Charles' aus den letzten 10 Jahren zusammenführt und neu kombiniert.

Zusätzlich beinhaltet Der CD-ROM-Part für den Zuhörer die Möglichkeit, mittels der mitgelieferten MAX 3.0 Software einen Kommentar zur Produktionsebene der Audio CD zu formulieren. Mit dem Max-Patch können auf der Bildschirmoberfläche die auf dem Audio-Part vorhandenen Samples neu konfiguriert, zu Sequenzen zusammengestellt, und editiert werden. Was Charles durch die Verwendung dieses technischen Doppelcharakters anstrebt, ist das neu einzulösende Verhältnis von Bild und Klang, von Auge und Ohr:

#1.: Was ich beabsichtige ist eine Beziehung in der Zeit, zwischen den verschiedenen visuellen und auditiven Variationen. Dies soll soviel bedeuten, wie das Herstellen einer gleichzeitigen physischen Stimulation des Ohrs und des Auges, um eine 'synästhetische' oder 'synaptische' Erfahrung zu bewirken. Diese Art Erfahrung erinnert an die Arbeiten von Fischinger und Whitney. Der Unterschied zwischen Film und interaktiver Computertechnologie besteht aber darin, daß wir die Parameter von Klang und Bild in Echtzeit verändern können. Wir können hierbei Kombinationen erfahren, die noch nie realisiert wurden, oder sehr selten entstehen. Auf diese Weise verstärkt die Interaktivität den physischen Aspekt der Erfahrung und bringt den Zuhörer oder Spieler dazu, achtsam und verantwortlich zu sein. Computertechnologie, die mit den anderen Sinnen -Berühren, Riechen, Schmecken- arbeitet, ist noch nicht weit verbreitet. Und daher gibt es auch keine Riech-Lampen oder Berühr-Lautsprecher. Das Primat des Audio-Visuellen ist etwas, das ganz defintiv öfter in Frage gestellt werden sollte, um Raum für eine viel globalere Sensibilität zu lassen.

Klangbeispiel: einzelne samples von 'undirected 1986-1996'

Einige Samples des CD-ROM- Parts, die Charles dem Zuhörer und 'User' zur weiteren Verwendung freistellt. Alle benutzbaren Samples sind auch auf dem Audio-Part zu hören, der nur eine mögliche Form darstellt, diese Klänge zu gruppieren und in Musik aufzulösen.

Die Klänge auf 'undirected' sind einerseits längere Passagen, digital bearbeitete Dokumente etwa von Performances. Andererseits verwendet Charles winzige Samples von Klängen, die er an so verschiedenen Orten wie den Straßen Kalkuttas, dem Flughafen von Seoul, oder dem Hamburger Fischmarkt aufgenommen hat. Charles bastelt an einer Kartographie von Klang, die er im Medium der CD als Multiple realisiert.

Gleichzeitig entsteht dabei auch ein spezielles Aufschreibesystem für 'Zeit', einer Dimension, die für Charles' kompositorisches Verständnis extrem wichtig ist:

#2.:Der gesamte Prozeß des Hörens ist hier in Frage gestellt: Der Zuhörer hat nun die Verantwortung, seine eigene Musik zu produzieren, was nichts anderes bedeutet, als daß er seine eigene Version von Langeweile produziert. Auf diese Weise muß er seine Fähigkeit zum Zuhören weiterentwickeln, und zwar im Hinblick auf 'Direktes Hören' bzw. 'Echtzeithören' , also jener Fähigkeit, allen Schichten eines Soundscapes zur gleichen Zeit Aufmerksamkeit zu widmen.. Unter 'Erinnerndem Hören' hingegen verstehe ich die Fähigkeit, das zu erinnern und zu analysieren, was sich schon ereignet hat, um neue Kombinationen zu kreieren und Langeweile zu vermeiden.

Ich versuche auch, nie zweimal die gleiche Anordnung von Parametern für den gleichen Sound zu benutzen. Das kostbarste, das wir haben ist Zeit. Ich mag es absolut nicht, meine Zeit damit zu verschwenden, einen Sound zu wiederholen, selbst, wenn es ein sehr schöner Sound ist.
Interpret: Christophe Charles
Titel: Deposition Yokohama
Tonträger: Deposition Yokohama
Erscheinungsjahr: 1994
Label: Yokohama Musuem
Ein Teil einer älteren Arbeit von Christophe Charles, der CD 'Deposition Yokohama' aus dem Jahr 1994.

Für den Audio-Part von 'undirected' ordnete Charles die Samples gemäß der alphabetischen Nähe der Bezeichnung an, die er ihnen selber gab. Ein recht willkürliches Verfahren, das er als 'ready-made' definiert. Die Verwandtschaft zu Aufnahmen von -etwa- John Cage liegt auf der Hand, dessen 'An Alphabet' oder 'Roaratorio' hier ins Gedächtnis kommen : Für Roaratorio hatte Cage Tonbandaufnahmen an den Handlungsorten von James Joyce's 'Finnegans Wake' gemacht, die er später am Pariser IRCAM-Studio mit Rezitationen aus besagten Buch zusammenmischte. Die Reihenfolge der Tonfragmente ermittelte Cage dabei nach dem chinesischen Orakel des I Ging.

Interpret: John Cage
Titel: Roaratorio.
Tonträger: Roaratorio.
Erscheinungsjahr: 1994
Label: Wergo
"Roaratorio" von John Cage; ein Tondokument, das von Prinzip und Klangwelt Ähnlichkeiten mit Charles' "undirected" hat.

'Musik ist ununterbrochen, nur das Hören tritt periodisch auf',diesen Satz Thoreaus bringt Christophe Charles ins Gedächtnis, wenn er die letzten Minuten des Audio-Parts in Stille verstreichen läßt. Die stumme Sequenz will dabei die Stille als Geräusch der Umwelt bewußt machen und gleichzeitig manifestieren, wie geräuschvoll ein CD-Spieler arbeitet. "undirected" ist Kopf/Hörer/Musik und arbeitet mit einer ebenso intensiven wie sensiblen Ästhetik auf dem Weg zwischen Narrativität und Abstraktion. 'Klang kommt vor dem Sehen', sagt Charles. In diesen Sinn zeichnen die Soundscapes auf "ndirected"ein Bild vor, das die Geschichte der einzelnen Klänge als eine subjektive Illusion von "Gedächtnis" erscheinen läßt.

#3.: 'Meine Musik ist voller Zitate: Henning Christiansens Musik, Musik buddhistischer Mönche, Hundemusik usw. Ich betrachte jeden aufgenommenen Klang, der von einem Menschen oder einem Tier mit Absicht erzeugt wurde, als ein Zitat. Darüberhinaus betrifft die Frage des Zitierens nicht nur physischen Klang, sondern auch kompositorische Ideen. Die Mehrzahl der Klänge, die mit Musikinstrumenten erzeugt werden sind viel weniger komplex als Umweltklänge, die Kombinationen von vielen verschiedenen Klangschichten darstellen. Das größere Interesse, komplexe Klangkombinationen zu hören, habe ich aus den zuvor erklärten Gründen. Es gibt aber auch'einfache' Soundscapes, nämlich dann, wenn nur einige Klänge auftreten. Wenn ich das Ende des ersten Satzes von Sibelius Vierter Sinfonie verwende, so deswegen, weil ich es als einen (minimalen) Soundscape aus Finnland verstehe. Und, weil diese vier Noten die gesamte Sinfonie zusammenfassen. In diesem Sinn haben sie eine außerordentliche Komplexität, die vielleicht eher mit einem 'Erinnernden Hören' verknüpft ist. Zitate benutze ich also wegen der präzisen Qualität, mit der Komplexität hier an das Gedächtnis gebunden ist. In diesem Sinn repräsentiert jeder Klang eine kleine Welt für sich, es ist der sichtbare Teil eines Eisbergs.'
Interpret: Christophe Charles
Titel: undirected 1986-1996
Tonträger: undirected 1986-1996
Erscheinungsjahr: 1997
Label: Mille Plateaux


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- 2.februar 1997 -


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