6.april 1997



tactical media revisited

Micz Flor im Gespräch mit Geert Lovink


[text als audiofile]


geert lovink
Medien werden nicht länger nur zur Propaganda eingesetzt. Es macht keinen Sinn mehr bei Medien ausschließlich an deren instrumentellen Wert zu denken. Innerhalb der Medien gibt es alle Arten von Verzerrungen, es gibt ästhetische Prämissen, man findet seltsame Wege mit denen 'gute Intentionen' verformt und abgelenkt werden. Alternative Bewegungen sind sich dieser Mechanismen mehr und mehr bewußt. Sie entwickeln ihre eigenen Medien, sie manipulieren existierende Medien und entscheiden sich in manchen Fällen eben nicht innerhalb der Medien zu arbeiten. Dies alles sind Optionen, die sich in den letzten 20 Jahren entwickelt haben.

micz
Unabhängige Radiostationen beschreiben ihre Unabhängigkeit als zentrales Element. In der letzten Zeit gibt es eine zunehmende Vernetzung alternativer Radiosender über die Software Applikation 'real audio', auf diese Weise weitet sich die Reichweite drastisch aus. Wie siehst Du die Vorteile, Nachteile und auch Möglichkeiten dieses Vorgehens?

geert
Radio kann ein freies und unabhängiges Medium sein, hauptsächlich wenn man die Möglichkeit hat einfach zu senden, wie wir in Amsterdam - das unterscheidet sich sehr von Situationen in anderen Ländern, wie Deutschland, wo der Staat immer noch große Angst vor seinen Mitbürgern hat, Angst davor, daß jeder dem man das Radio in die Hand gibt sich gleich in einen Faschisten oder Kommunisten verwandelt. Letztendlich werden sie herausfinden, daß Radio ein bedeutungsloses Medium ist. Es eignet sich gut als ambient Umgebung, aber nicht so sehr um Information oder Gegeninformation zu senden. Vielmehr erschafft es eine andere Perspektive, es arbeitet indirekt, mehr unterbewußt. Es steht mehr für Vergnügen und nicht so sehr für exakte Argumentation und Verteilung von Information. Der Computer ist sehr viel präziser und da treffen sich Radio und Computer. Radio ist total verschwommen - ein 'fuzzy medium', komplett unbedeutend, irgendwo in die Ecke gedrängt. Und: Computer sind im Kommen, ein Hype. Der Computer selbst als Medium ist natürlich ebenso bedeutungslos. Es gibt so wenige Rezipienten im Vergleich zu Zeitungen oder TV. Das sollten wir nicht vergessen wenn wir uns mit Internet beschäftigen: im Vergleich zu anderen Medien spielt es nur eine serh kleine Rolle. Vielleicht haben Internet und Radio eben das gemeinsam. Aber: es gibt sehr viel mehr Geld. Radio kann sich da einklinken, kann als Parasit ins Netz gehen. Und so wird real audio auch angewandt: um sich parasitär in diese kommerzielle Entwicklung einzuschleusen. Und da beginnt die ganze Geschichte natürlich...
Wie benutzt Radio 'real audio'? Ich denke nicht, um mehr Publikum zu gewinnen. real audio wird ganz anders eingesetzt. Das Potential besteht darin, das zum ersten mal im Netz Audio-Daten übertragen werden können. Wir hatten bis jetzt nie diese Möglichkeit und haben wirklich eine lange Zeit auf diese Software gewartet und es ist wirklich toll, daß es das endlich gibt. Außerdem kann man diese Daten in extrem guter Qualität speichern. Auch das ist wirklich gut: insofern benutzen wir das Internet nicht so sehr zum Broadcasten, sondern es bildet eine Infrastruktur des Transports. In frühen Zeiten des Netzes wurde das Internet viel mehr auf diese Art. Alternative Medien, freie Radiogruppen können es als Transportmedium nutzen und dafür ist es das ideale Medium.

micz
Wenn sich auf diese Weise der Kontext verändert, sich die Gruppe der Rezipienten so drastisch ändert, meinst du, daß dies einen Einfluß auf die Information, die gesendet wird ausübt?

geert
Da die Menge von real audio Hörern immer noch so klein ist, glaube ich nicht, daß diejenigen, die diese Sendung produzieren darauf achten. Aber im Falle von B92 kann man sehen, wie sich die Möglichkeiten strategisch einsetzen lassen. Dort ist das Medium so lokal und durch real audio lassen sich andere Verbindungen knüpfen; auf einmal sendet man weltweit - und das ist wirklich sehr seltsam. Es bedeutet einen kompletten Shift in der Art und Weise wie sie arbeiten. Auf einmal wird dort ein tägliches Nachrichten Bulletin in Englisch produziert - wenn man die Möglichkeiten richtig einsetzt können sie starken Einfluß nehmen, aber meist nur in Krisensituationen: wenn du wirklich hoch motiviert bist, wenn du weist, was du tust und die direkte Wirkung siehst. So erkannte B92 auf einmal, daß es eine ausgesprochen wichtige Hörerschaft hatte, viele Emigranten und andere einflußreiche Zuhörer. Als sie über real audio aus Belgrad eine Telefonnummer des Studios sendeten riefen auf einmal Leute aus Saudi Arabien, Kalifornien und Brasilien an. Serben, die sich dort aufhielten und die Sendung über real audio verfolgten und im Studio anriefen. Die Leute von B92 in Belgrad dachten sich: 'Wie ist das möglich? Wie kommen die hier her? Wie empfangen die unser Programm?' Aber in Situationen, in denen Menschen wirklich auf Informationen angewiesen sind, wo Information überlebensnotwendig werden kann (in diesen Zusammenhängen sprechen wir von 'taktischen Medien') in solchen Krisensituationen lassen sich Medien clever und innovativ einsetzen, nicht im 'herkömmlichen' Sinn als Gegenpropaganda, sondern um Machtgefüge anzuschlagen. Sie dort zu treffen, wo sie es nicht erwarten. Dann erscheinen auf einmal seltsame Zusammenhänge und das ist natürlich sehr aufschlußreich.

micz
Wird man verwundbar, indem man sich in Abhängigkeiten zu anderen Diensten begibt, die die physischen Voraussetzungen für Netzwerke schaffen? Wie Funktionieren Restriktionen in solchen Fällen?

geert
Nun, solche Fälle werden sehr schnell bekannt werden. Das sollte man jetzt ausloten und Skandale provozieren, um zu sehen, wie Autoritäten reagieren; zu sehen, ob die Polizei kommt, ob solche Netzprojekte als nationale Frequenzen wahrgenommen werden, oder nicht. Oder, ob die Firma die an den Copyrights verdient die Leute ausfindig machen wird und verklagt. Dies sind sehr, sehr interessante Fälle und ich kenne eine Menge Leute weltweit, die sich dafür brennend interessieren würden. In anderen Ländern gibt es keine solchen Beschränkungen. Wir von xs4all in Amsterdam können zum Beispiel Möglichkeiten liefern nach Deutschland aus Holland zu senden. Auf die alte Art, wie es manche in den 60ern taten, sie sind mit dem Boot auf das offene Meer gefahren und haben von dort gesendet. So etwas läßt sich einrichten und man kann abwarte um zu sehen wie die rechtlichen Grundlagen sind. Das ist natürlich nicht Ziel in sich selbst. Wir sollten schon wissen, was wir senden und warum.

micz
Momentan bist Du viel in Osteuropa anzutreffen. Wie steht es dort um die Situation unabhängiger Medien und in welche Richtunge geht die Entwicklung?

geert
Seit 1989 versuche ich - ich weiß nicht ob ich dabei Erfolg habe - einer Anzahl von unabhängigen Projekten mit Geld, Ausrüstung, Ideen, Modellen, Gerüchten, was auch immer zu helfen eine Infrastruktur aufzubauen, damit man sich aufeinander beziehen kann und die Möglichkeiten schafft sich zu unterstützen. Wie du weißt generieren diese alternativen Medienprojekte kein Geld, niemand verdient daran, was es wirklich sehr schwer macht. Man muß schon sehr motiviert sein und sich in einer verdammt dreckigen politischen Situation befinden - wie zum Beispiel Leute in Serbien oder allgemein in Kriegsgebieten wo sie wirklich wissen warum sie unabhängige Medien brauchen. Dann wird auf einmal sehr deutlich warum dies so notwendig ist - es gibt überall nur Propaganda und die Medien sind total fucked up. Niemand muß darüber reden, es ist einfach klar, die Bevölkerung, jeder sieht die Notwendigkeit.
Es geht wirklich rauf und runter, zumindest von den Projekten, von denen ich weiß, aber so schnell gebe ich nicht auf. Wir hatten gerade einen sehr interessanten workshop bei denen auch viele Stationen aus dem früheren Jugoslawien dabei waren. Die sind wirklich schon so viel weiter. Das klingt vielleicht komisch, aber sie wissen eben genau warum sie Medien einsetzen, auch wie sie neue Medien einsetzen. Das tun sie sehr effizient - und es ist gut das zu sehen.


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- 6.april 1997 -


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