6.april 1997



Jim O'Rourke

Martin Conrads


[text als audiofile]


<musik>
Interpret: Jim O'Rourke
Titel: Cede
Tonträger: Terminal Pharmacy
Erscheinungsjahr: 1995
Label: Tzadik
</musik>

Jim O'Rourke ist jemand, den man einen Ausnahmemusiker nennen könnte, ein freundlicher Mensch dazu, und manchmal eine Person die sich mit einem Fluidum umgibt, das in seiner Musik ihren nur vagen Ausdruck findet.
O'Rourke lebt in Chicago, studierte dort Komposition, trat in den späten 80er Jahren als Begleitmusiker für Nicolas Collins auf und hat seitdem eine Discographie hinter sich gebracht, die aufgrund seines Alters von 27 Jahren Erstaunen hervorruft. Erstaunen, nicht nur aufgrund der Menge an Aufnahmen, sondern auch wegen O'Rourkes dezidiertemVerhältnis zum Konzept von "Klang": Klang hat für ihn semantische Bedeutung, Klang kann virtuell sein oder täuschend, vorgeschoben oder zurückgestellt. Klang jedenfalls ist für O'Rourke ein kultureller Effekt, dem man ebenso analysieren wie als Werkzeug anwenden kann. Elementar sei die Sensitivität für den Kontext von Musik, für deren Definitionen und Register, die sich als textuelle Ordnungen nie vollständig einlösen lassen. Musik - eine Hilfskonstruktion des Konzepts "Klang":

O-ton 1 (übersetzt): 'Ich war langezeit sehr an den kulturellen Implikationen interessiert, die mit Klang einhergehen. Eines der Dinge, das mich an music concrète interessierte, war, daß viele Komponisten davon ausgingen, aus Klängen abstrakte Musik herstellen zu können. Das glaube ich jedoch nicht! Man kann nicht den Klang einer sich schließenden Autotür verwenden, ohne zu glauben, der Zuhörer würde diesen Klang nicht mit dessen kulturellen Implikationen in Verbindung bringen. Es ist nämlich nicht einfach ein bloßer Klang, so wie ein gespieltes Piano auch nicht einfach Klang ist. Den Klang eines Pianos kann man gar nicht hören, weil das Konzept 'Piano' kulturell zu stark konnotiert ist. Wen man ein Piano hört, hört man ein gespieltes Piano, aber nicht den Klang, der aus einem Piano kommt. Diese Frage der musikalischen Abstraktion war mir sehr wichtig. Ich versuchte also, Stücke zu schreiben, die mit der tatsächlichen Verwendung von Klängen arbeiten. Zum Beispiel: Was bedeutet es, den Klang einer sich schließenden Autotür zu verwenden, während man im Hintergrund den Klang eines Sees hört? Was mich also interessierte war: Höre nicht auf den Klang, höre auf dessen Referenz: Das ist ein Auto und das ist ein See, warum ist das eine hier, und das andere da?
Es ist ja nicht nur ein Klang und ein anderer. Eine Menge Musik aus dem Bereich des Post-Industrial verwendet diese Klänge, vergleichbar mit dem Konzept, nach dem man Vogelstimmen verwendet, weil sie sanft klingen. Aber warum klingen sie sanft? Nur weil sie in diesem Sinn verwendet werden! Und wenn das lange genug passiert, mischt sich also diese kulturelle Implikation hinzu. Die nächste Generation wird dies dann als gegeben hinnehmen; sie wird den gleichen Klang benutzen als ob es feststünde, daß eine Geste ihrem Effekt gleicht - ohne darüber nachzudenken, was diese Geste ist. Und warum verwenden sie diese Geste? Oh, weil sie so sanft ist! Aber warum sanft ? Nur aufgrund ihres übernommenen Gebrauchs! Und genau darum ging es mir also, darum, diese Dinge herauszubeiten.'

<musik>
Interpret: Jim O'Rourke/ Günter Müller
Titel: an atlantean returned knows the value of the stars
Tonträger: slow motion
Erscheinungsjahr: 1994
Label: For 4 Ears
</musik>

Ein Ausschnitt aus einem Track, den O'Rourke 1994 mit dem Schweizer Freejazzer Günter Müller aufnahm. - nur eine von zahlreichen Kollaborationen mit Musikern verschiedenster Stile - darunter solche mit Derek Bailey, John Oswald, Dan Burke, Keith Rowe, John Zorn und Robert Hampson, um nur einige wenige zu nennen. Daneben fertigte O'Rourke Remixe für Tortoise, Oval, Labradford oder this heat an und produziert außerdem eine Reihe anderer Projekte und Solomusiker.

Alleine die Liste der Labels, auf welchen O'Rourke Aufnahmen veröffentlicht, deckt nahezu jeden Bereich avancierter zeitgenössicher Musik ab, sei es Extreme, Staalplaat, Mille Plateaux, Drag City oder Table of the Elements.

Nachdem er bis vor zwei Jahren ausgesprochen viel mit Improvisation, music concrète und elektroakustischer Musik gearbeitet hat, wendet sich O'Rourke in seinen aktuellen Aufnahmen dem Klang von Steel String Guitars und Drehleiern zu. Für seine beiden neuen CDs, seine ersten Soloaufnahmen seit 2 Jahren, entdeckte er für sich den Country-Blues und minimalistischen Gitarrenfolk John Faheys wieder - ein Musiker, den O'Rourke seit vielen Jahren schätzt und dessen frühe Aufnahmen er auf seinem eigenen Label "Dexter's Cigar" zu fairen Preisen wiederveröffentlicht.

<musik>
Interpret: Jim O'Rourke
Titel: Happy Days
Tonträger: Happy Days
Erscheinungsjahr: 1997
Label: Revenant
</musik>

"Happy Days", eine Aufnahme, bei der O'Rourkes Gitarrenspiel nach und nach von dem Dröhnen einer Drehleier übertönt wird, und erst eine halbe Stunde später wieder daraus emportaucht. Ein Spiel mit akustischer Präsenz in Zeit und Raum, und eine Methode, die anAlvin Lucier oder den Minimalisten Tony Conrad denken läßt.
Minimalismus war O'Rourkes erste musikalische Liebe, die er in Zusammenarbeit mit Musikern wie Arnold Dreyblatt und Phil Niblock weiterführte.
Gibt es für O'Rourke ein Ziel, zu dem er muskalisch gelangen will?

O-ton 2 (übersetzt):'Ich möchte nicht von mir denken, daß ich einen Platz habe, an den ich gehöre, so etwas wie ein Ziel, das ich anstrebe. Vielmehr bin ich an einem ständigen Hinterfragen interessiert, was auch der Grund ist, warum ich dazu tendiere, zwei Jahre an etwas zu arbeiten, dann ein paar wenige Auftritte zu machen, vielleicht noch ein Platte, und dann damit aufhöre. Was mich interessiert, ist der Lernprozeß, in einer unbequemen Situation zu sein, was immer dann passiert, wenn man etwas in Frage stellt, ernsthaft in Frage stellt. Diese unangenehme Position interessiert mich: wie finde ich einen Weg hinaus, wie finde ich eine Lösung oder eine aufrichtige Position darin. Es ist nicht so sehr ein Ziel, das mich interessiert, sondern vielmehr der Prozeß, dahin zu gelangen.'

<musik>
Interpret: Tony Conrad
Titel: The Heterophony of the avenging Democrats outside, cheers the Incineration of the Pythagorean Elite, whose shrill harmonic Agonies merge and shimmer inside their torched Meeting House.
Tonträger: Slapping Pythagoras
Erscheinungsjahr: 1995
Label: Table of the Elements
</musik>

Ein Ausschnitt aus Tony Conrad's CD "Slapping Pythagoras" von 1995, auf der neben Jim O'Rourke unter anderem David Grubbs zu hören ist. Letzterer, ehemals Bassist bei Bastro, ist O'Rourkes Partner bei Gastr del Sol, jener Band, der ein angewählter Kultstatus nicht abzusprechen ist. Hier nun ein Track aus Gastr del Sols 94er CD "Croockt, Crackt, or Fly".

<musik>
Interpret: Gastr del Sol
Titel: Is that a Rifle when it Rains?
Tonträger: Crookt, Crackt, or Fly
Erscheinungsjahr: 1994
Label: Drag City
</musik>

Gastr del Sol wurde als Operationsbasis und als Produktionsgemeinschaft beschrieben. Die Zusammenarbeit von Grubbs und O'Rourke funktioniert als vitales Set an Ideen und Werkzeugen, die beide konzentriert und - man kann sagen- meisterhaft arrangieren. Von all seinen Projekten ist Gastr am wahscheinlichsten "Pop" - und dessen genaues Gegenteil: zu sperrig dazu, zu filigran, zu brachial, und mit einem Rest Hardcore in Zeitlupe. Gastr del Sol ist ein Zusammenhang, in dem es selbsverständlich wird, ein Schlagzeugsolo durch die Einspielung einer Installation von Jean Tinguely zu ersetzen oder ein Photo von Roman Signer auf dem CD-Cover zu benutzen. Grubbs und O'Rourke suchen zwischen Ereignis und Struktur nach der Rückseite von "Bedeutung".

O-Ton 3(übersetzt): 'Auf eine bestimmte Weise ist das, als würden wir 'Charaktere' einführen, die später wieder auftauchen können. Eine meiner favorisierten Gesten, -das kann man auf fast allen Gastr del Sol-Platten hören- ist es, ein Motiv zehn Minuten lang zu spielen und dann aufzuhören. Man kann aber das gleiche Motiv auch über zehn Minuten spielen und einen Part von fünf Sekunden direkt daranhängen, und das ändert die letzten zehn Minuten radikal. Das meine ich mit 'Charakteren'. Gleichzeitig geht es natürlich darum, formale Strukturen zu finden. Formale Strukturen um ihrer selbst willen sind allerdings nicht interessant. Die häufigste Beschwerde meiner Professoren über den Minimalismus war, daß er keine Form hat. Natürlich hat er Form! Aber darauf kommt es ja überhaupt nicht an! Alles sollte tabula rasa gesehen werden. Was kommuniziert werden sollte, ist das Bemühen der Dinge, mit ihren eigenen Bedingungen zurechtzukommen, und zwar genau im Augeblick ihrer Entstehung. Wenn etwas den Bezug zu einem Außerhalb sucht, ist das auch in Ordnung, aber den Bezug zu einer formalen, historischen Idee aufzunehmen im Sinn von: 'dieses Stück funktioniert, weil es in Sonatenform gehalten ist' - so etwas ist mir völlig egal. Es sei denn, es verhandelt die historischen Fragen der Sonatenform. Das ist ähnlich wie mit der Benutzung von Klängen, deren Ursprung man vergessen hat; ein blindes Anwenden ohne zu Hinterfragen.'

Gastr del Sol ist nur eines von vielen Projekten, in denen sich O'Rourke regelmäßig engagiert, wenn auch sein stabilstes und nuanciertestes. Mayo Thompson's legendäre "The Red Krayola" ist eine andere, wenn auch weniger kontinuierliche Zusammenarbeit, in der O'Rourke seit einigen jahren involviert ist ñ neben Personen wie Stephen Prina, Albert Oehlen oder John McEntire von Tortoise. Hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1994:

<musik>
Interpret: The Red Krayola
Titel: Rapspierre
Tonträger: The Red Krayola
Erscheinungsjahr: 1994
Label: Drag City
</musik>

Sei es in Kollaborationen oder Solo, als Produzent oder als Musiker, live oder im Studiokontext: O'Rourke arbeitet äußert bewußt und feinfühlig. Jedes musikalische Konzept, das er angeht, findet sein theoretisches Pendant. Flexibilität ist eines seiner Lieblingsworte. Das erlaubt ihm, im ersten Augenblick tadellos über Alanis Morisette als Popphänomen zu philosophieren, um am Satzende bei seiner Umarbeitung von Wagners Rheingold-Overtüre herauszukommen.
O'Rourke erscheint als seriöses Whizz-Kid mit seiner Hornbrille und Strickmütze und einem riesigen katalog an kulturellen und persönlichen Referenzen aller Art. Und obwohl er klar und distinguiert seine Gedanken ausbreitet, bleibt dennoch ein Rest zurück, der ihn in der Erinnerung als ungewöhnlich undefinierte Person zurückläßt.
Wenn Jim O'Rourke am Ende des Interviews seine neue CD verschenkt, dann nicht, ohne die Linernotes auf der Banderole sorgfältig durchzustreichen. Natürlich kommt man danach nicht umhin, den gesamten Text entziffern zu wollen, dessen erster Satz alles auf den Punkt bringt: 'Jim O'Rourke is a rarity.'

<musik>
Interpret: Jim O'Rourke
Titel: Bad Timing/Happy Trails
Tonträger: Bad Timing
Erscheinungsjahr: 1997
Label: Drag City
</musik>

End.

e-mail an Martin Conrads

- 6.april 1997 -


e-mail an die Redaktion

COPYRIGHT NOTICE: Das Copyright der unter 'convex tv.' digital veröffentlichten Texte liegt bei den an gegebener Stelle angeführten AutorInnen. Die abgelegten Texte dürfen für den individuellen, nicht-kommerziellen und privaten Gebrauch heruntergeladen werden, wobei Copyright und Trademark angeführter AutorInnen, Organisationen und Produkte durch Dritte zu respektieren sind.

Publikation, Weiterleitung und kommerzielle Verwertung der Texte oder Auszüge derselben sind ohne Einvernehmen der AutorInnen untersagt.

Die Meinungsäußerungen der AutorInnen, sowie Zitationen sind nicht deckungsgleich mit der Meinung der 'convex tv.' Redaktion. 'convex tv.' ist nicht für den Inhalt und dessen Umgang mit Dritten, Copyright Regulationen und anderen Gesetzen verantwortlich.