6. April 1997





Ufokrise 97 - das neue Schlingensiefstück an der Volksbühne

Dana Sohrmann, Florian Clauß


[text als audiofile]


Ankündigung Schlingensief

Die Show beginnt. Nachdem das Publikum wie eine Armee Außerirdischer vom Portal auf die Bühne marschiert ist, scheint sich der Abend direkt in ein Aliengastspiel zu verwandeln. Die gesamte Besatzung der Volksbühne fiebert dem Start ins All entgegen, nur Commander Schlingensief und sein Team wissen, daß eine Fehlzündung vorliegt und notgelandet werden muß so wie es die eingespielten Szenen aus Fellinis 8 1/2 bereits suggerieren.

Schlingensief:
Plötzlich kam in Peenemünde raus, daß dieses private Raketenprojekt, Werner von Braun, der private Universumcrash eigentlich so Thema ist. Also Callenger und Unglück und versuchen hochzukommen. Die Frage, ob die Aliens tatsächlich hier landen, war nur an der Seite interessant. Wenn man sich überlegt, warum die überhaupt hierhin kommen, dann muß es denen ja auch scheiße gehen, da oben.

Scheiße geht es aber auch denen hier unten. Geplagt von explodierenden Arbeitslosenzahlen, einer unfähigen Regierung, Politikverdrossenheit und anderen Handicaps scheint ein Nirwana so fern wie nie. Alles schwebt tatsächlich. Regisseur Schlingensief hat dagegen ein Programm entwickelt, daß man "Erdung" nennen könnte. Im Affront zur gegenwärtig hochgeputschten Sehnsucht nach Welten außerhalb unserers Universums, dem Hunger nach UFOs und Außerirdischen auf allen Kanälen lautet sein Rezept Selbstfindung. Raumschiff enterprise ruft Erde.

Schlingensief:
Eigentlich ist so die Postmoderne schuld, daß überhaupt nichts mehr an tatsächlicher Bewegung spürbar ist. Alles war schon da, alles soll schon dagewesen sein. Jetzt bin ich plötzlich im Rückschritt und sage, dann will ich mein privates politisches Schicksal oder meine Heimat suchen.

Noch vor einem Jahr in "Rocky Dutschke '68" war das Kollektiv Thema des Abends. Jetzt widmet sich Schlingensief in "Schlacht um Europa" dem Gegenteil, nämlich dem Privaten. Dabei werden Momente transportiert, die ihre Kraft nicht aus der Privatisierung der Öffentlichkeit ziehen, so wie bei vielen Talkshows immer etwas von Wohnzimmeratmosphäre simuliert wird, sondern im Gegenteil: Schlingensief inszeniert private Blicke, die sich auf der Bühne exponieren.

Schlingensief:
Nichts ist fürchterlicher für dieses Deutschland, wenn jemand extrem privat wird. Beuys ist einer, den ich sehr verehre. Filz und Fett und solche Sachen, danach suchen. Was ist mein Filz, was ist mein Fett und was ist mein Hase. Und diese hochprivate Institution selbst verkörpern, selber darrstellen. Das ist nicht tragbar für dieses Deutschland, dann wird es aggressiv.

-o-ton-Stück: ganz privates Bühnenbild

Veränderungen im großen Rahmen - diese Devise wird man in dem Stück nicht finden können. Stattdessen konzentriert sich Schlingensief auf die kleinen Schicksale, die dennoch etwas in Bewegung setzen; Bilder, die im Kopf hängenbleiben, wie die weinenden und fassungslosen Gesichter der Familienangehörigen nach der Challengerexplosion. Dieses Bild steht zugleich wie ein Symbol über dem Stück, indem es die Sehnsucht nach Abnabelung von der Erde als gescheitert beschreibt und die zwangsweise Rückführung suggeriert. In diesem Kontext steht auch der illusionslose Blick eines Artauds.

-o-ton-stück: artaudzitat

Grausam ebenfalls anzusehen, sind die verwendeten Filmausschnitte aus Gesichter des Todes und einem Pseudoaufklärungsfilm über die Beschneidung afrikanischer Jugendliche. Doch Schock ist ein programmatischer Punkt in jedem Schlingensief-Stück und kommt deshalb der nicht mehr schockierend. Aber was sonst für einen Zweck verfolgen solche Filmszenen?

Schlingensief:
Es sind kraftspendende oder kraftabsaugende Elemente für mich. Es gibt so Filme, wo Leichensezessierungen gezeigt werden. Und das sind Filme, wenn die man sich länger anguckt, dann... Das habe ich mal erlebt. Ich habe Atlanten über Gerichtsmedizin und da sind Fotos drin, wo sich Leute erhängt oder gemeinschaftlich umgebracht haben, erschoseen werden, und so weiter. Ich habe die mir mal in meinen Wohnzimmer vor ein paar Jahren angeguckt und dann kam meine Freundin nach Hause und ich hab das Buch gepackt und in die Ecke geworfen, als hätte ich etwas ganz verbotenes gemacht und wollte aufstehen und sagen: Hallo, wie geht's. Und in dem Moment, wo ich aufstehe, brech ich zusammen, weil meine Beine beide eingeschlafen waren. Ich hab das nicht gemerkt. Ich lag vor der auf dem Boden und die sagt: Was ist denn mit die los? Und ich bin so'n bißchen rumgerobbt und dann hab ich ihr das Buch gezeigt. Das sind so Filme und Bücher, die finde ich extrem wichtig. Die stellen für mich etwas klar, was man sehr schnell vergißt, nämlich, daß die Zeitschiene kann unterbrochen werden.

Der Begriff Happening beschreibt wohl am nächsten Schlingensiefs Theaterform. Über scheinbar lange Improvisationsflächen montiert sich Stück für Stück eine Szene auf der Bühne, die plötzlich zu einem geschlossenen sinnlichen Bild kristallisiert. Theater als Baustelle, wo die Darsteller ohne feste Rollen an ihre Grenzen gehen und der Zuschauer nicht mehr nur Konsument ist. So wird Schlingensief seinem Anspruch gerecht, dem Publikum etwas Lebendiges, Unfertiges darzubieten, worin für ihn die einzig akzeptable Funktion von Theater besteht. Theater wird so zu einem lernenden Organismus, der die Einzigartigkeit jeder Aufführung betont und dabei Zuschauer wie Schauspieler im Ungewissen läßt, was wohl als nächstes passieren wird.

Schlingensief:
Es sind immer Tableaus, wo man sich trifft und dazwischen kann alles mögliche passieren. Es kann auch, wie bei der Premiere, einer abhauen. Da ist ein Schauspieler abgehauen bei der Premiere, weil's ihm nicht behagt hat.
Da haben wir 'ne Aufführung gehabt, da waren zehn Minuten 'boff', da ging nichts mehrund darauf haben wir dann den Schluß aufgebaut. Und plötzlich fing wieder alles an zu atmen. Das sind so die Momente, wo das dann Teststrecken sind, wo ich Fans verliere, aber auch neue dazu gewinne. Also das sind die Schlachten und in Schlachten gehen immer Leute verloren.

-o-ton-stück: gesang: "schlacht um europa"

Die Grauzonen zwischen den einzelnen Passagen, die wie eine Art gewollte Kommunikationsstörung wirken, vermitteln gleichzeitig ein Gefühl von nicht-wissen-was-nun-werden-soll. Peenemünde, der Schauplatz des Abends, fungiert quasi als Schnittstelle von Krieg und Frieden. Dort nahm die Weltraumfahrerei ihren Anfang. Zuerst war London das erklärte Ziel, dann der Mond. Und nun gibt es keine Ziele mehr, man kreist um sich selbst, man kreist um die Erde. Der erwartete Einschlag bleibt aus und die erlösende wie auch reinigende Explosion findet nicht statt. Ich werde dafür sorgen, daß Sie von diesem Abend enttäuscht sein werden, ist Schlingensiefs proklamierte Ziel der Aufführung.

Schlingensief:
Jetzt ist der Körper unter Hochdruck, aber er macht eben nichts, wie Werner Brecht. Der ist eigentlich unter Hochdruck. Der Körper, die Haut. Aber Dampf ablassen geht nicht mehr, das Ventil ist nicht mehr bekannt. Keiner weiß mehr, wo das Ventil ist, wo man Dampf abläßt oder sowas. Deswegen schweben wir, oder... Alle Beteiligten sind ja eigentlich im All. Die sind ja gar nicht mehr anwesend. Die sind ja alle unter Hochdruck da, aber nicht mehr wie bei 'Dutschke' schreiend und pöbelnd, sondern fast schon sich selber wie in der Zwangsjacke verhalten. Und dann denke ich, kommt Heimat wieder raus. Hier drin ist was kleines, warmes.

Doch Schlingensief hält an diesem Punkt nicht inne, denn der Abend steht nicht so sehr unter dem ausgerufenem Motto, "das Vakuum zu füllen, das Helmut Kohl nach seinem Ableben hinterlassen hat", sondern vielmehr das eigene Vakuum zu füllen und miteinander in Beziehung zu treten. Wenn auch nur 10 Minuten des Stücks ein Gleichklang zwischen Darstellern und dem einzelnen Zuschauer erreicht werden kann, hat die Aufführung einen Sinn gehabt.

Schlingensief:
Man kann letzen Ende alles in Frage stellen und man wird nur dann glücklich sein, wenn man selber geerdet ist, wenn man dieses Heimatgefühl zuläßt und sagt, da ist die Weltkugel, die rast immer, da schläft ein Mann, da schläft Sophie Rois, der Schlingensief will Curt Cobain sein und sich in den Kopf schießen, das klappt aber auch nicht ganz. Das ist eigentlich so der Ausschnitt und jetzt macht's schnipp und den nehmen wir mit. Also es ist kein pessimistisches Stück in dem Sinne, aber ich glaube, es ist der Auftrag da, zu sagen, das innere schwarze Loch soll dich aufsaugen und dann sind wir nicht mehr im All, dann sind wir bei und selbst.

Das könnte ein schönes Schlußwort sein für die auf 16 Kapitel begrenzte Raumpatrouille eines fast ganz irdischen Schlingensief-Teams. Es drängt sich jedoch die Frage auf, was aus den Universum-Fetzen, die nach dem Crash auf dem Schlachtfeld übrig blieben, wohl werden wird.

Schlingensief:
Ich glaube an Zukunft nur an Premieren ohne Proben. Also, die Leute kommen, der Vorhang geht auf, und man guckt da oben die Leute an oder wir gucken die da unten an. Also, das kann ich mir vorstellen. Oder Heidi Kabel. Boulevard-Theater. Das erfüllt seinen Auftrag. Da geh' ich hin und Heidi Kabel kommt rein, dann kommt die Verwechslung mit der Magd und der Bauerist da und einer mit 'nem Schiff... Ansonsten bin ich wieder extrem an Filmen interessiert. Ich kann das auch nicht sagen. Vielleicht kann man wirklich so einen Heimatabend machen. Noch einen stärkeren Heimatabend. Also wirklich einen Heimatabend!

Also: The show must go on and will go on.

o-ton: Schlußapplaus

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- 6. April 1997 -


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