1.Juni 1997





TRANSMEDIA '97 citiyscapes- die stadt als code

Chris Flor


[text als audiofile]


alle audiozitate aus: jem cohen, Lost book found, usa 1996, 35 min, video data bank, chicago, illinois

aus dem notizbuch:
"...the forest,... the clock,...the fossil, ...sattelite trading..."

jem cohens 1996 entstandenes video aeussert sich in zwei teilen: nicht in zwei abschnitten, sondern eher der laenge nach geteilt, in die bildspur einer, die tonspur andereseits.
der ich erzaehler, der mann mit der stimme aus dem off, erzaehlt eine geschichte: als erdnussverkaeufer in new york begegnet er in manhattan einem troedler, der mit auf den strassen gefundenen oder aus lueftungs- und u-bahnschaechten an die oberflaeche der stadt gebrachten objekten handelt. der troedler ueberlaesst dem erzaehler fuer einen nachmittag ein gefundenes notizbuch. in dieses notizbuch eingetragen finden sich objekte und orte der stadt, oft in verbindung mit urzeiten. die eintragungen sind unter ueberschriften organisiert, in karegorien und subkategorien geordnet.

erzaehler:
"on the inside it looked at first like a salesman´s records: hundreds of adresses, dates and so on, but it was carefully devided into chapters of some kind. and things were grouped whith other things for some reason. and some of the groups were given titles or headings. it were those titles that made the whole thing strange."

obwohl er das buch noch am gleichen tag zurueckgibt, bleibt bei ihm eine faszination fuer die idee bestehen, new york in bedeutungseinheiten zu atomisieren und diese wieder groesseren kategorien zuzuordnen. er erkennt einen versuch, die stadt als text einer sprache zu verstehen, die es zu entziffern gilt. allmaehlich wird er auf die texte aufmerksam, die die stadt produziert und transportiert: die gebaeude, werbeschilder, die privaten aushaenge und lautsprecherdurchsagen. waehrend ihm klar wird, dass die suche nach einer zentralen bedeutung in all diesen aeusserungen zu keinem ergebnis fuehren kann, entdeckt er doch gewisse regeln, die fuer den text stadt gueltig zu sein scheinen.

die andere ebene des videos sind die bilder. sie sind eine reportagenartige montage aus super 8 und videoaufnahmen. immer wieder nehmen sie bezug auf das aus dem off erzaehlte. manchmal entsprechen sich beide spuren, das gesagte ist das abgebildete. oft gibt es zeitliche verschiebungen, es wird im nachhinein illustriert, was zuvor beschrieben wurde. dann wieder, meistens, wenn passagen aus dem notizbuch gelesen werden bestehen nur assoziatative verbindungen zwischen hoer und sichtbaren. in laengeren wortlosen passagen spinnen sich diese assoziationsketten immer weiter, bis sie durch den erneut erklingenden text wieder auf die narration fokusiert werden. durch diese nur bedingte synchronitaet, die aehnlichkeit, die wieder verschwindet bilden sich muster der bedeutungsinterferrenz, wie zwischen den konotationen zweier menschen zu dem selben wort.

aus dem notizbuch:
"6:45 am ... the engine...the tunnel"

das urbane als text zu verstehen ist ein motiv, das desoefteren auftaucht. die buecher berlin, alexanderplatz , manhattan transfer und ulysses montieren ihre staedte aus sprache. wer in dem medium sprache die stadt schreibt, dem bleibt sowieso keine andere moeglichkeit, als sie in text zu uebersetzen. doch scheint vor allem new york das bild des textes im gegensatz zu dem der landschaft zu provozieren: nicht historisch gewachsen, sondern in rechtwinkligen bloecken konstruiert, wurde ein teil des gottlosen, des undifferenzierten wilden amerikas in differenzierten raum umgewandelt. weder stadtbild noch strassennamen tragen geschichtliche referenzen, sondern verweisen in das system mathematischer abstraktion und damit auf den aufklaererischen wunsch nach kategorialer ordnung. ein wunsch, der auch als versprechen verstanden werden kann. die strassen, gebaeude, laeden und haeuserblocks erscheinen dem bewohner als benutzeroberflaeche eines unverstaendlichen programmes, als zeichenfolge mit unbekannter semantik und syntax.

erzaehler:
"certain places, things, incedents, that seemed to fit like words in a crossword puzzle with a shape that was always changing, whose subjekt i was never sure of in the first place."

in baudrillards populaerem text kool killer, der aufstand der zeichen ist diese stadt ohne raeumliches zentrum der traeger eines codes. der code legt die distinktiven merkmale fest, anhand derer sich die bewohner ihrer bedeutung, einer subkultur, einem lifestyle zuordnen. als stadtguerilla, die gegen dieses individualisierende system vorgeht, schlaegt baudrillard den sprayer vor. er verwendet die physischen oberflaechen des urbanen, schreibt sie zurueck aus dem virtuellen raum reiner bedeutungszuordnung in begehbares territorium. er macht aus kontext wieder umwelt. der graffitist muss den code der stadt nicht knacken, um ihn zu bekaempfen, er muss nur merken, dass es ihn gibt.

erzaehler:
"there are a million little puzzles that aren´t going to be solved. like a few years back i had to use payphones a lot and i noticed thatevery phone hade the words pray or worship god scratched into the metal of the coinbox and it was always in the sme handwriting. for years i checked and it was always there."

den taxonomen der stadt, den verfasser des notizbuches lockt das versprechen nach aufschluesselung des ganzen textes, nach der bedeutung. er bedient sich dabei derselben technik, die ein linguist benutzen koennte, der mit der entzifferung eines fremden schrifsystemes beauftragt ist: er sammelt zeichencluster, und versucht anhand ihrer pattern zu entdecken, die auf regeln schliessen liessen. regeln der zeichenverknuepfung und bedeutungszuordnung, die sich auf den gesamten vorgefundenen text uebertragen lassen. die vorgehensweise in dem notizbuch ist dabei eher intuitiv. keine der kategorisierungen kann zwingend sein, jede der bedeutungszuteilungen geht erst durch die filter persoenlicher erfahrung mit welt und sprache. ein problem, das aber auch der dechiffrierer des fremden schriftsystemes hat. genau wie jeder leser, der sich einem fremden text naehert. was als suche nach einer autorenintention gedacht ist, produziert in dem notizbuch zwangslaeufig nur die chronik einer persoenlichen leseerfahrung.

erzaehler:
"whoever had written the book it seemed had been so thorough and organised i feel it had to have made sense to him. but it all began to seem more and more useless and crazy that anyone thought he could conect so many things, that there was any kind of order. after all: noone really makes the world, it´s just a place you´re born into."

der ich erzaehler ist nicht auf der suche nach der grammatik der stadt, er ist auf der suche nach dem verfasser des notizbuches. die frage "wer schrieb das verlorene Buch" stellt sich ihm wiederholt. wie das notizbuch auf der oberflaeche new yorks nach dessen system sucht, versucht er aus dem niedergeschriebenen auf seinen autor zu schliessen. das traegt dieselben wiedersprueche mit sich und auch diese anstrengung fuehrt nur zu einer persoenlichen interpretation. da er das buch nur fuer kurze zeit besessen hat sind seine erinnerungen an den inhalt ohnehin stark selektiv. seine eigenen assoziationen, seine eigenen wege durch die stadt beeinflussen diese selektion noch. ein neuer text entsteht.

aus dem notizbuch:
"the flood,...the alchemist,...victory,...transformation of matter..."

in paul austers city of glass schlaegt die fluegeltuer der metapher, die stadt und text miteinander verbindet, in die andere richtung. der von privatdetektiv quinn beobachtete stillman durchquert die strassen new yorks. auch er sammelt objekte. und auch er versucht, durch kategorisierung und praezise zuschreibung dieser, eine grammatik zu finden. die grammatik einer sprache, deren bedeutendes und bedeutetes in unmittelbarem, nicht arbitraerem, verhaeltnis zueinander stehen. er moechte die vor dem babylonischen turmbau, vor diesem linguistischen suendenfall, gesprochene sprache wiederfinden. (viele filosofen der aufklaerung, unter anderem leibniz, versuchten sich an entwuerfen von universalen plansprachen dieser art, in denen sich sprachliche kleinsteinheiten auf die gleiche art zu komplexeren begriffen fuegen lassen sollten, wie sich die elemente der welt zu verbindungen zusammenschlossen. und keiner dieser versuche war letztendlich erfolgreich, keine der entstandenen sprachen bezeichnete wirklich universal und unmissverstaendlich.) bei der beobachtung stillmans entdeckt quinn den ritualcharakter, den stillmanns suche hat. der von stillman abgelaufene weg, in quinns notizbuch eingetragen, ergibt auf der karte new yorks nachgezeichnet die phrase "tower of babel". diese strategie demonstriert einen glauben an die macht des zeichens die jedem ritual innewohnt. wie der verfasser des notizbuches in cohens video glaubt stillmann an diese macht des zeichens der eigenen sprache. an die moeglichkeit, durch sie eine andere sprache zu finden. die rituale beider sind als sprachliche zeichen in notizbuechern fixiert. in beiden faellen versucht der jeweilige verfolger sich aus den notierten zeichen heraus den verfolgten zu erklaeren. und alle beteiligten koennen nicht anders, als ihren eigenen text zu verfassen.

erzaehler:
"who wrote the lost book? are ther really any laws and system, scales, balances? what is the city made of? sometimes it seems as if the city is the sum of stories and memories, layers and layers, and that objekts are like the cities skin."

lost book found koennte nahelegen: versteht man die stadt als text, hat sie nicht einen autor und eine zentrale bedeutung. sie ist ein von einer vielzahl von autoren erstellter hypertext. die von den teiltexten getragenen intentionen sind so verschieden wie ihre autoren, die architekten, verkaeufer, werbeagenturen und strassenprediger. und der gesamte stadttext wird staendig aktualisiert, indem plakate verschwinden, neue haeuser gebaut werden, laeden schliessen, hupen ertoenen und stimmen verstummen.

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- 1.Juni 1997 -


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