5.Oktober 1997





Armand Gatti - der Pathos im Mann am 99 Tag der dx

Stefan E. Schreck


[text als audiofile]


Begrüßungsapplaus zum Vortrag Gattis in Kassel

Ein Vortrag von Armand Gatti, so scheint es, gibt einem gar nichts. Man weiß nicht zu unterscheiden zwischen Fiktion und Realität. Gatti ist die Verheißung einer irgendwie spürbaren individuellen Kraft, ein Mann gegen den Rest der Welt und wer sich anschließt, der kommt nicht wieder los. Heinz Neumann-Riegner ist so einer. Jahrelang hat er das Prinzip Gatti versucht zu erforschen, einige Bücher über ihn veröffentlicht und nun den Einführungsvortrag in Kassel gehalten.

Heinz Neumann-Riegner
Gatti erinnerte auf seine besondere dramaturgische Weise in mehreren Stücken an Nestor Machno, die Führungsgestalt der anarchistischen Republik in der Ukraine nach der bolschewistischen Machtübernahme, und zitierte immer wieder dessen Aufruf: "Proletarier der ganzen Welt, steigt hinab in eure eigenen Tiefen. Sucht dort die Wahrheit und schafft sie. Ihr werdet sie nirgendwo anders finden." Befindlichkeit, Subjektivität? Also doch Wiederauferstehung des anarchistisch-kleinbürgerlichen Subjektivismus'? Jedem Teilnehmer an den Theaterprojekten Gattis der letzten 3o Jahre stellte sich die Frage "Wer bin ich?" "An wen wende ich mich?"

Was ist von einem Mann zu halten, der Friedrich Nietzsche und Friedrich Hölderlin und gleichermaßen Ulrike Meinhof und Rosa Luxemburg als seine lebensbegleitenden Freundinnen und Freunde bezeichnet? Eine von ihnen hat er persönlich gekannt, die anderen sind Freunde im Geiste. Aber so wie er das erzählt, macht es keinen Unterschied, ob er mit Ernesto Che Guevara durch die Urwälder gezogen ist oder nicht, Mao Tse Tung in China getroffen oder für Ulrike Meinhof ein Weihnachtsständchen vor den Toren des Moabiter Gefängnisses gebracht hat. Alles hat stattgefunden, wird zu phantastischen Bildern, Wahrheit wird nur als innere, eigene Wahrheit akzeptiert und mißt sich nicht an der offiziellen Geschichtsschreibung. Verfolgt man die biographischen Spuren des Theatermanns Gatti verstrickt man sich leicht im Dschungel der revolutionären Weltgeschichte, in den verschiedenen Strömungen des internationalen Widerstand gegen Nazi-Deutschland und in den Leidensgeschichten der Kämpfer und Inhaftierten jeglichen Widerstandes.

Heinz Neumann-Riegner
[...] gegen die physische und psychische Repression in den großen und kleinen, sichtbaren und unsichtbaren, abnormen und normalisierten Gefängnismauern der Herrschenden, der herrschenden Ökonomie, Politik, sozialen Selektion, der herrschenden Bilder und Sprachen: Widerstand im China des ersten Kaisers, bei den Mayas und Azteken, in den Todeszellen von Sacco und Vanzetti, auf den Reisfeldern von Vietnam, in der Guerilla Guatemalas, in der Niederschlagung der Pariser Kommune, im Scheinwerferlicht des Fernsehstudios beim Porträtieren Rosa Luxemburgs, in Plötzensee, in Auschwitz und Mauthausen, im umzingelten Madrid und in den Labyrinth-Zellen des nordirischen Long Kesh.

All dies waren Schauplätze des gattischen Widerstands. Ausgangspunkt der Weltsicht des Armand Gatti und zugleich lebensprägender Résistance-Wille gegen alles staatliche, war die Inhaftierung des 17 jährigen Widerstandskämpfers im besetzten Frankreich im Jahre 1941. Er wird in eine Außenstelle des Konzentrations- und Arbeitslager "Neuengamme" bei Hamburg deportiert, kann aber kurze Zeit später fliehen und dient in den letzen Kriegsjahren in der britischen Armee gegen die Deutschen. Es beginnt eine Odyssee durch die halbe Welt, deren Parallelen Heinz Neumann-Riegner mit Hölderlins "Reise zur Sonne" beschrieben hat.
Ein literarisch gebautes Leben wird zum Überlebensmechanismus in einer zunächst von Krieg, Verfolgung und Zerstörung, später dann von apolitischen Strömungen geprägten Zeit. Bis 1958 betätigt sich Gatti als Journalist, beiträget von den sozialen Brennpunkten dieser Welt und erhält in Frankreich dafür den "Prix Albert Londres" - dessen Bedeutung durchaus vergleichbar ist mit dem Pulitzer Preis. Gleichzeitig beginnt er mit Theater- und Filmdrehbucharbeit. Und pikanterweise feiert er seine größten Bühnenerfolge in Deutschland, in einer Stadt in der nun 30 Jahre später geladener Gast ist - in Kassel. Gatti siedelt 1960 nach Berlin über, schreibt mehr als 50 Theaterstücke und legt sich eine Bibliothek an, deren 30.000 Bücher von dem Wissen dieser Welt erzählen: Bücher über die Quantenphsyik, über Biochemie und Atombomben, genauso wie über den chinesischen Kommunismus und den guatematekischen Freiheitskampf. Als Sohn einer einfachen französichen Arbeiterfamilie, der Vater Anarchist, die Mutter gläubige Katholikin, wird Wissen für ihn der Weg zur Emanzipation, als Aufstand gegen Kleinbürgertum und Macht zugleich, als persönliches Engagement, daß mit Parteipolitik nicht kollaborieren möchte und entspricht damit dem Bild des engagierten Künstlers, der sich nicht vereinnahmen läßt.

Heinz Neumann-Riegner
Über alle Umbrüche hinweg, die Gattis Schaffen kennzeichnen, ist bis in die jüngsten Stücke trotz ganz anderer Entstehungsgeschichte und anderen Aufführungsrahmens Gattis Vorgehen dasselbe geblieben: die umwerfende, aus der Bahn werfende Erschütterung, das Zerschlagen des Festgefügten, die Dis-Kussion, die Konfrontation der Dis-Kurse, wie es schon Deleuze Ende der 6oer Jahre für Gattis Dramaturgie beschrieb: "ein reines Theater der Plätze und Positionen" ("pur thŽ‰tre de places et de positions"). Ich möchte hinzufügen: "ein reines Theater der Trajekte und Konnexionen", das mit allem spielt und alles zum Fließen bringt, nur eben das eine unerschütterlich festhält: soziale Gerechtigkeit, Befreiung aus allen erniedrigenden, entwürdigenden Fesseln, die Würde des Menschen.

Heinz Neumann-Riegners Buch über Armand Gatti trägt den Titel "Das Prinzip Leben". Er beschreibt den Menschen, Künstler, Theatermann und Journalisten Gatti als eine "Vitalisierungsdroge". Da weht im großen Gestus des Vortrags Weltluft, seine Bôhnenereignisse sind Reflexion und künstlerischer Schaffensprozesse zugleich und seine Akteure das Potential jeder Veränderung. Revolutionäres Gedankengut vermischt sich mit literarischen, fiktiven Begebenheiten und am Ende der üblicherweise 5-6 stündigen Lesungen Gattis, hat er es geschafft die Zuhörerschaft emotional "heraufzuschrauben", daß die gar nicht mehr wissen können, ob sie hier nun einem politischen Schamanen oder einem brillanten Lebemann auf den Leim gegangen sind - wenn man sich diesen Fragen überhaupt noch stellt.

Heinz Neumann-Riegner
Gattis Dramaturgie setzt von Anfang an das Denken in Szene, wie es Deleuze in seinem Foucault Buch beschreibt: "Denken, das heißt Experimentieren, Problematisieren, Denken, das ist Sehen und Sprechen, Denken geschieht in ihrem Dazwischen, im Spalt, im Auseinanderklaffen von Sehen und Sprechen ... Denken, das heißt falten, das heißt das Außen mit einem koextensiven Innen zu verdoppeln ... Die Vergangenheit denken gegen die Gegenwart, der Gegenwart Widerstand zu leisten, nicht für eine Rückkehr, sondern für eine zukünftige Zeit, indem die Vergangenheit aktiv und im Außen präsent gemacht wird, damit endlich etwas Neues geschieht, damit Denken endlich beim Denken ankommt. Das Denken denkt seine eigene Geschichte (die Vergangenheit), aber um sich zu befreien von dem, was sie denkt (die Gegenwart), und um endlich anders denken zu können (die Zukunft)." Deleuze, Foucault, p. 124-127)]
Denken das heißt Retroperspektive. Reflexion ist der Ausstieg aus dem Jetzt und Hier und Dies, ist Bruch, Aufbruch, ein Greuel für die In-der Enge-ungebrochen-weiter-machen-Wollenden, die Seßhaften, die komfortabel Eingerichteten und aufs Konservieren Ausgerichteten.

Gatti gibt nicht vor politisch zu sein, er ist es einfach. Er glaubt an das private, anarchistische Potential jedes einzelnen und in der Weise ist auch seine Theaterarbeit mit Behinderten, Arbeitslosen, Drogendealern und Prostituierten motiviert. Da kommt einem zwangsläufig die Arbeit eines Christoph Schlingensief im Deutschland der 90er Jahre in den Sinn und es wirkt auf einmal nur noch schal, zynisch und eitel. Wenn Schlingensief seine von der Gesellschaft benachteiligten Laienschauspieler zum Kunstwerk stilisiert, dann entdeckt man, daß er, im Unterschied zu Gatti, ihnen die Menschenwürde raubt. Ein Schlingensief führt seine Akteure vor, beraubt sie ihrer selbst und macht sie zum Symbol einer verrotteten Republik. Er glaubt nicht an seine Darsteller und den Menschen dahinter. Der Arbeitslose darf nicht nur einfach Arbeitsloser sein, sondern muß zugleich als Clown wirken, als irgendwie behindert und benachteiligt. Niederlage soll hier erfahrbar gemacht werden, die Laienschauspieler werden in einem willenlosen Spiel stilisiert, durch den Theatermann Schlingensief. Deformierte Körper, eine kranke Leber und die Dumpfheit ins Gesicht geschrieben. Selbst schuld!

Gatti hingegen läßt seine Akteure sich selbst stilisieren in der Rolle, in der sie sich sehen: Prostituierte bieten dem Publikum während des Theaterstücks ihre Dienste an, Drogendealer verteilen Kostproben ihrer Ware in den Reihen und Arbeitslose sind einfach nur Arbeitslose und nicht Popsänger, Aufziehfiguren und Witzgestalten, zu denen sie ein Christoph Schlingensief macht. Gattis Grundsymbolik hingegen ist der kleine, alltägliche Widerstand und die Bewahrung der Menschlichkeit. Nicht mehr und nicht weniger. Auf der Bühne und im Leben.
Nur ein einziger Zuhörer lacht, als Gatti die internationale Presse und Intelligenzia zitiert, die immerfort hämisch behauptet, die Deutschen hätten ja noch nie eine richtige Revolution zustande gebracht. Alle anderen schweigen und haben wohl verstanden oder sind sich angesichts der jüngsten Geschichte da selbst nicht mehr so sicher.

Heinz Neumann-Riegner
Gatti, einer mit der anstößigen Lebenserfahrung von Enge, mit feinstem Gespür für alles Lähmende, Erstickende, für alles Arretieren und Kruzifixieren, einer, der nur an Aufbruch denkt, das Weite sucht, sich das Maßlose anmaßt. Einer, der in der Sprache den Dreh seines Überlebens findet, im Verhör, im Konzentrationslager, und bis heute in der Sprache deliriert, im wörtlichen Sinne - de lira -, sich mit den Wörtern aus den tiefen Furchen des normalen Wahns, aus den Fahrspuren der alltäglichen politischen und sozialen Routine herausschreibt und herausschraubt.

Es gibt dieses Beispiel eines Daimler-Benz Managers, der nach einem Vortrag Gattis zunächst ein Buch über Daimler-Benz und den Nationalsozialismus geschrieben hat, sich damit selbstredend aus den Vorstandsetagen verabschieden mußte und fortan zum politisch engagierten Filmemacher geworden ist.
In Kassel bei den Vorträgen der 100 Gäste gab es aus dem Publikum in der sich anschließenden Diskussion immer die Frage nach dem Politischen in der Kunst, nach dem Politikverständnis der Künstler, nach dem Engagement für die Menschenrechte. Bei Gatti gab es nur den tosenden Applaus und die Stille - nach einem rhetorischen Feuerwerk. Für einen Augenblick steckte in jedem Kleinbürger der Geist der großen Welt- und der kleinen Privat-Revolution. Man selbst war auf einmal Teil dieser - wie auch immer gearteten - Revolution und es bedurfte keiner Stellvertreter, die die Schmutzarbeit übernehmen.
Und dann wurde es Nacht. Der deutsche Herbst deutete sich an. Nach 30 Jahren und 100 Tagen darf Kassel nun endgültig wieder Provinz sein.

Gatti letzen Vortagsworte und Schlußapplaus

- RealVideo File des Vortrags unter www.mediaweb-tv.de/dx
- Kompletter Text des Vortrags von Heinz Neumann-Riegner über Armand Gatti auf Anfrage

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- 5.Oktober 1997 -


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