5.Oktober 1997





ISEA 97 - Lavendel in der Matrix

Micz Flor


[text als audiofile]


[Landeanflug Chicago. Delta Air Lines [1] in der letzten Schleife über der Stadt und ich sitze übermüdet am Fenster. Unten liegt das Gitternetz Chicagos, jeder Block ein Vektor aus Nord/Süd und Ost/West. So habe ich mir Gibsons literarische Cyberspace Vision vorgestellt: die Matrix. Über dem Michigan Lake schweben noch ein Dutzend feingepixelter Federwolken und mit dem Sonnenuntergang über dem Wasser und dem Echtzeitschwenk der Boing 747 zum Flughafen O'Hara im Nordwesten der Stadt wird mir klar, daß ISEA97 im Bezug auf Bilder einiges bieten muß, um gegen das Raster der amerikanischen, modernen Großstadt ein angemessenes Spektakel zu setzen... bleibt zumindest mehr Zeit, sich auf Inhalte zu konzentrieren.]

'Content' heißt der Untertitel des 8ten Symposiums für elektronische Kunst. Damit greift ISEA97 ein Thema auf, daß in letzter Zeit häufig debattiert wird, ein Schlagwort aus dieser Debatte ist z.B. der 'content provider'. Shawn Decker, Vorstand des diesjährigen Komitees fragt dabei nach der Art und Weise, - Zitat - '... wie Ideen aus dem Bereich der neuen Medien sich mit denen alter Medien und Kunstpraktiken verknüpfen, also weniger die technische Frage "wie" etwas entsteht, als vielmehr die Frage "warum".' Mit einem solchen Eröffnungstext möchte sich ISEA97 deutlich von high-tech Messen wie Siggraph abtrennen - von denen man sich nur die organisatorische Erfahrung und das technische Personal geliehen hat.

Trotz dieser vielversprechenden Rahmenbedingungen löste sich an 'Inhalten' nicht alles ein. Viele der vorgestellten Projekte fielen hinter den theoretischen Fragestellungen zurück. Das hätte man sich auch vorher überlegen können. Mit einem Fokus auf Künstlerpräsentationen ist klar, daß diese Projekte ihre eigene Rezeption nicht mitbringen brauchen. Eine eindeutige Trennung zwischen Repräsentation und Rezeption hätte vielen Beteiligten einiges erleichtert. Im vorliegenden 'Magic Mix' kam es zu unwirschen Mixturen.

[Chicago hat einen Nullpunkt, einen Ursprung von dem aus sich die Straßen durchzählen lassen. An jeder Haltestelle stehen die Koordinaten (z.B. 1200W / 1600S). Der absolute Nullpunkt liegt dicht neben 'The School of the Art Institute of Chicago', die das Symposium dieses Jahr organisatorisch betreuen. Während sich die Vorstädte mit zwei bis sechs Stockwerken zufrieden geben, stellt sich 'Downtown' anders dar. Als ich mit der Rolltreppe die U-Bahn verlasse, wollen die Fassaden gar nicht aufhören zu wachsen. Was aus dem Flugzeug noch als Skyline zu überblicken war, wird jetzt zur Straßenschlucht. Die undurchdringlichen Oberflächen machen es fast unmöglich sich die Geschichte dieser Stadt herzuleiten. Wer in Europa groß geworden ist, entwickelt ein intuitives Gefühl für den Wachstum einer Großstadt. In Prag findet sich noch vieles an Altstadt, was andererorts schon lange weggeplant wurde und dennoch hat selbst der Berliner Alexanderplatz noch seinen alten Kern. Aber wie kann man hier in Chicago eine Geschichtsachse anlegen?]

ISEA97 war um eine historische Herleitung der neuen Medien - und viel wichtiger - Kunst in den neuen Medien bemüht. Setzt man sich an den Computer und klickt sich durch eine CD-ROM oder surft im Netz oder hat die Gelegenheit, mit Hilfe des 'virtual reality helmet' in dreidimensionale, virtuelle Realitäten einzutauchen, befindet man sich am Puls technischer Entwicklung. Aber wie Shawn Decker weiter oben schon zitiert wurde, geht es ISEA97 auch um die Frage einer Eingliederung der high-tech Produkte in Relation zu traditionelleren Formen von Medienkunst - oder ganz altertümlich: ölbild und Plastik.

In diesem Zusammenhang muß der Vortrag von Oliver Grau [7] Erwähnung finden. Grau beschäftigte sich in seiner Abhandlung mit einer historischen Herleitung der Einbeziehung oder des Eintauchens des Betrachters in das Bild. 'Into the Belly of the Image' spannt eine Zeitleiste vom antiken Rom über das Panoramabild

Auch Jorge Luis Marzo aus Spanien holt weit aus [8], wenn er in seinem Vortrag über Interaktivität und Täuschung feststellt, daß dies - Zitat - '...schon im 16ten und 17ten Jahrhundert Formen angenommen hat, wie sie heute noch gegenwärtig sind. In der Kunstwelt hat die zunehmende Relevanz visueller Täuschungen eine neue Idee der Realität und subjektiver Wahrnehmung definiert. Benjamin, Foucault und Debord haben sich damit schon ausführlich beschäftigt.'

Klar, daß sich viele der vorgestellten Projekte auf eben diese Schriften beziehen, trotzdem hilft eine historische Eingliederung den passenden Rahmen zu finden. Und schließlich findet sich die ein oder andere Virtual Reality Arbeit in unerwarteter konzeptueller Nähe zu militärischen Panoramagemälden des letzten Jahrhunderts.

[Während ich so durch die Straßen streife (Block für Block), bleibe ich an einer Video Arcade stehen. Hinter der Fensterscheibe sehe ich eine junge Schwarze, die versucht sich mit ihrem virtuellen Revolver gegen ankommende Zombies zu verteidigen. Auf dem Bildschirm steht in großen blinkenden Buchstaben über dem Geschehen: 'To reload shot outside screen'. Sie schießt unbeirrt mit leerem Magazin in die ankommenden Halbtoten, die sie Stück um Stück zerfleischen.]

Bildungspolitik, Analphabetismus und Medien wird nur am Rande thematisiert. Nolan Bowie, Rechtsanwalt und Medienaktivist der älteren Generation läßt am zweiten Tag die Fakten für sich sprechen [9]. Verschiedene Untersuchungen ergeben unterschiedlichste Ergebnisse. In den U.S.A. scheinen bis zu 50% der Bevölkerung ernsthafte Probleme mit Lesen und Schreiben zu haben. Bowie arbeitet seit Jahren mit unabhängigen Medienprojekten (wie Deep Dish TV [10] oder Independent Television Service [11]). Als Eröffnungsredner am zweiten Tag des Symposiums gibt er der Veranstaltung den bis dahin vernachlässigten sozialpolitischen Blickwinkel. Seiner Meinung nach besteht ein ganz deutlicher Bedarf an Partizipation der öffentlichkeit in den Medien - und gleichzeitig ein kommerzieller Trend diesen Zugang zu unterbinden. Amerika setzt auf digitales Fernsehen und die Geräte, die in absehbarer Zeit von jedem Haushalt erworben werden müssen belaufen sich auf 2000 Dollar - nur um dann festzustellen, daß man mit Pay TV die nächste Rechnung monatlich per Post bekommt.

Aus der selben Richtung schießen sich 'El Mexterminator' [12] aus dem ISEA Beiprogramm ein. Mit ihrer harschen Definition: 'Television : freedom of speech for the white man' bildet ihre Perfomance als künstlerische Arbeit ab, was Bowie in seinem Vortrag anreißt. Die Randolph Street Gallery [13] stellte den Mexikanern Guillermo G—mez-Pe–a und Roberto Sifuentes einen Raum zur Verfügung, der sich als Schnittstelle zwischen mexikanischer Identität und 100 Jahren Filmklischees des unrasierten Banditen darstellt. G—mez-Pe–a und Sifuentes sitzen auf Thron und Rollstuhl im Multi-Media-Trash Raum. Der Einladungstext fordert auf: 'fühlt sie, massiert sie, riecht sie. Sie können sie auch füttern. Aber stehlen sie bitte nicht ihre rituellen Artefakte.'

[Bevor ich nach Chicago aufgebrochen bin, traf ich zwei Teilnehmer. Schnell kam man auf ISEA97 zu sprechen und eben Chicago. Ich konnte nur zustimmend nicken, als mir zwei Künstler der älteren nahe legten, mir die 'music scene' Chicagos reinzuziehen. Ja, Chicago House. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Während wir stumm und einstimmig nickten, rutschte einem der beiden heraus: in this city Blues is still alive. Ich hörte intuitiv auf zu nicken und zwischen uns schwieg eine Generation... Blues... was soll ich sagen...]

Für eine ältere Künstlergeneration, die ihre Manifeste noch in den 60ern geschmiedet haben, stellen sich neue Medien als Möglichkeit dar Interaktivität als politisches Konzept künstlerisch umzusetzen. Der Zusammenbruch von Hierarchien bedeutet dort auch die Involviertheit des Betrachters in das Kunstwerk. Performance wird zur sozialen Skulptur. Interessanterweise geben sich die Generationen heute bei Deleuze und Guattari wieder die Hand. 'Techno-Nomads' als Schlagwort. Bei genauerem Hinsehen zerfällt dieser Konsens jedoch an dem was die Post-Moderne für die Nachhippiegeneration bedeutet hat.

So sieht Roy Ascott [20], dessen Schriften zur Interaktivität in der Kunst vor Jahrzehnten wegbereitend waren, heute immer noch den Schamanen als Metapher für die Rolle des Künstlers in der telematischen Gesellschaft. Die unerwartete Entpolitisierung des Künstlers läßt sich im Umfeld der jüngeren Generation nicht finden. Während Ascott in einem - Zitat - 'zen-like state of readiness' auf die Verknüpfung verschiedener Realitäten wartet, versucht man sich andererorts an einer aktiven Einmengung und Anwendung neuer Medien in einem politischen Diskurs.

Diana McCarty und Janos Sugar [21], beide wohnhaft in Ungarn, blieb leider nicht genügend Zeit eine kurze Geschichte der neuen Medien in Osteuropa am Beispiel Ungarns darzustellen. Dort stellt sich die Frage nach Zugang zu neuen Medien, Umgang mit neuen Medien und die Allokation von Ressourcen eindringlich und verweist metaphysische Gedankenspiele auf die folgenden Ränge.

[In Amerika läßt man sich natürlich den Billig-Einkauf nicht entgehen. Mit den neuen 'Nike Air' Trainers an den Füßen werde ich von jedem Schwarzen abgehakt. Ein Blick auf die Füße und die Sache ist gegessen. Da sind Zeichensysteme noch funktionstüchtig.]

Was mich am meisten erstaunte, ist die fast durchgängige weiße Mittelklasse, die sich hinter den Fassaden der Kunstveranstaltung auf Eröffnungen tummelt. Warum sich auf ISEA97 keine kulturelle Vielfalt breit gemacht hat, bleibt für mich unbeantwortet. Die oben angeführten 'El Mexterminator' Gruppe wurden zum Quotenprojekt.

Da stellt sich die Frage nach der Differenz: wer war nicht da? Die letzten Jahre zeitgenössischer Kunst haben eine Reihe international relevanter Medienkünstler gesehen. Namen wie Bill Viola, Douglas Gordon, Tony Oursler oder Stan Douglas sind nahezu auf allen relevanten Biennalen, Ausstellungen und Messen vertreten. Mit ISEA hat das anscheinend wenig zu tun, denn hier findet man sie nicht einmal in den Fußnoten - und das ist erstaunlich.

Für ISEA98 trifft sich alle Welt in Manchester und Liverpool, im Norden Englands und wird sich mit dem Thema 'Revolution' auseinandersetzen - letzte Chance die Subkulturen einzuholen...

Micz Flor, Chicago.

1 - http://www.delta-air.com
2 - http://sthelen s.neog.com/isea/text/schedulet/newvocabt.htm
3 - http://sthelen s.neog.com/isea/text/schedulet/soclthryt.htm
4 - http://sthelen s.neog.com/isea/text/schedulet/medtheryt.htm
5 - http://sthelens. neog.com/isea/text/schedulet/artsedt.htm
6 - http: //sthelens.neog.com/isea/text/schedulet/medtheryt.htm#muzhesky
7 - http://sth elens.neog.com/isea/text/schedulet/virtillt.htm#grau
8 - http://st helens.neog.com/isea/text/schedulet/virtillt.htm#marzo
9 - http://sth elens.neog.com/isea/text/contentt/speakert.htm#bowie
10 - http://www.igc.apc.org/deepdish/
11 - http://www.itvs.org
12 - http://fileroom.aaup.uic.e du/RSG/schedule.html
13 - http://fileroom.aa.uic.edu/RSG
14 - http://www.goethe.de/uk/chi/enind ex.htm
15 - http://sthelens .neog.com/isea/text/schedulet/journalt.htm
16 - http://sthelen s.neog.com/isea/text/schedulet/languaget.htm
17 - http://sthelen s.neog.com/isea/text/schedulet/wildsidet.htm
18 - http://www.sat.qc.ca/isea/webcast/
19 - http://www.sat.qc.ca/isea/we bcast/about.html
20 - http://sthe lens.neog.com/isea/text/schedulet/selft.htm#ascott
21 - http:/ /sthelens.neog.com/isea/text/schedulet/soclthryt.htm#mccarty

e-mail an Micz Flor

- 5.Oktober 1997 -


e-mail an die Redaktion

COPYRIGHT NOTICE: Das Copyright der unter 'convex tv.' digital veröffentlichten Texte liegt bei den an gegebener Stelle angeführten AutorInnen. Die abgelegten Texte dürfen für den individuellen, nicht-kommerziellen und privaten Gebrauch heruntergeladen werden, wobei Copyright und Trademark angeführter AutorInnen, Organisationen und Produkte durch Dritte zu respektieren sind.

Publikation, Weiterleitung und kommerzielle Verwertung der Texte oder Auszüge derselben sind ohne Einvernehmen der AutorInnen untersagt.

Die Meinungsäußerungen der AutorInnen, sowie Zitationen sind nicht deckungsgleich mit der Meinung der 'convex tv.' Redaktion. 'convex tv.' ist nicht für den Inhalt und dessen Umgang mit Dritten, Copyright Regulationen und anderen Gesetzen verantwortlich.