giant loopholes eat the universe from the inside out.

Ulrich Gutmair


[text als audiofile]

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Ein paar Ecken weiter der andere Ort, von dem ich immer wieder weiss, dass ich ihn kenne. Das entscheidende hier ist die Formulierung "immer wieder." Es handelt sich um die Wohnung, die schon mehrmals bereits als diejenige erkannt wurde, die unter völlig anderen Umständen besucht worden war, um schliesslich als eben jene wiedererkannt zu werden, die besucht, beinahe vergessen und wieder erinnert wurde. Dieser Umstand selbst aber muss ebenfalls gegen das Vergessenwerden ankämpfen. "Das ist die Wohnung, in der ich schon mal war, und die später, unter völlig anderen Umständen, noch einmal besucht wurde. Das haben alle aber schon längst vergessen, und ich muss immer wieder darauf hinweisen, dass das der Ort ist, der zweimal unter völlig anderen Umständen besucht wurde."

Insofern ist die Bedeutung dieses Ortes eben jener, der Ort zu sein, der als der Ort erkannt wird, an dem die Zeitschleife stattfindet. Es ist der Ort der Erkenntnis der Zeitschleife und somit ein Ort der dritten Ordnung. Es ist offensichtlich angebracht, mal vorbeizuschauen, allerdings muss die Mission von mir alleine durchgeführt werden. Die Schlüssel stecken in der Hosentasche. Fremde Schlüssel, die Einlass gewähren in die Wohnung. Hinter der Wohnungstür liegt die Küche, die ein kleines Fenster zum Hof besitzt. Rechts betritt man das Zimmer, das von der Strasse aus gesehen werden kann. Es dient als Lager für die Überreste eines Lebens, das hier nicht mehr stattfindet. Regale stehen herum, in denen Dinge aufbewahrt werden, die woanders nicht dringend gebraucht werden. Wo sich die Bewohner jetzt aufhalten, werden die Dinge in den Regalen nicht vermisst. Was macht man hier?

Der alte Fernseher ist nicht gerade ein Designermodell, steht aber hochkant. Wenn man Music Television sehen will, oder was immer dieses Programm sein soll, klappt das wunderbar. Nur die Netzfunktionen sind nicht richtig umkonfiguriert worden. Man muss den Kopf zur Seite legen, um den Browser zu bedienen. Die Wände sind in einem längst altmodisch gewordenen Stil bemalt worden und passen gut zum Fernseher. Kaum erkennbare Muster verändern ihre Farbe nach oben hin. Eine Frau erscheint überraschenderweise im Zimmer. Ob sie sich in einem Zimmer aufgehalten hat, das ich beim Hereinkommen nicht bemerkt hatte, oder eben erst die Wohnung betreten hat, ist nicht klar. Ich habe das Gefühl, sie kennen zu müssen. Sie bestätigt mich, indem sie meine Anwesenheit selbstverständlich hinnimmt. Sie weist aber darauf hin, dass ich nichts durcheinanderbringen solle, sie sei in einem nervösen Zustand und es könnte passieren, dass sie aus der Fassung gerate. Ihr Gesicht macht ihre Warnungen durchaus plausibel. Sie könnte durchaus hübsch gewesen sein, als sie hier noch wohnte, inzwischen haben sich aber tiefe neurotische Falten durch sie hindurch gezogen. Ich frage sie nach dem Weg, mein Begleiter ist nach kurzem Blickkontakt über das Fenster zur Strasse bereits vorausgegangen. Sie entfaltet eine kleine Karte, die ihr offensichtlich nicht exakt genug zu sein scheint, bestätigt aber meine dunkle Erinnerung, dass es von hier aus an mehreren Strassenecken links abgeht, so dass bis zum Zielort beinahe ein Halbkreis durchs Viertel gezogen wird. Sie beklagt die Qualität der Karte noch einmal und dreht sie um. Auf der anderen Seite befindet sich ein detaillierter Plan der nächsten U-Bahn-Station. Alle Bahnsteige sind einzeln abgebildet. Mit einem schnellen Zoom, der mich für einen Moment die Orientierung verlieren lässt, entfaltet sich die Karte um uns herum und wir befinden uns in einer VR-Version des Bahnhofs.

Ein Mann scheint in falscher Richtung den Bahnsteig verlassen zu wollen, was von den anwesenden Sicherheitskräften als Schutzverletzung interpretiert wird. Der Mann folgt dem Impuls zu flüchten. Allein die Tatsache, dass die Sicherheitsleute ihn verfolgen, scheint auszureichen, um sein Vergehen wahr werden zu lassen: Weil der "Täter" das weiss und flüchtet, setzt er sich schliesslich aktiv ins Unrecht. Als er uns auf der Rolltreppe entgegenkommt, invertiert sich die Karte wieder. Der Bürger hat die Lektion gelernt? Inzwischen ist Besuch gekommen, keine Ahnung, was die Jungs hier wollen. Ich wundere mich über den Kinderzimmerschrank, der neben der Tür in der Ecke angebracht ist. Er ist leer bis auf zwei Bildschirme, was ist mit dem Kind passiert und wer war eigentlich noch mal der Freund der neurotischen Frau, damals? Sie scheint anzunehmen, dass ich die Geschichte kenne. Ohne weitere Nachfragen verlasse ich die Wohnung, nachdem ich mich etwas zu förmlich von der Gesellschaft verabschiedet habe. Im weiträumigen Teppenhaus sitzen zwei typische bourgeoise Münchnerinnen um die vierzig mit blondierten Haaren und scheinen sich aus lauter Langeweile extrem für mich zu interessieren. Ich habe keinerlei Bedürfnis, mich auf irgendeine Kommunikation einzulassen und verlasse das Haus.

An der nächsten Strassenecke befindet sich eine Jugendstilanlage. Eine Ruine? Die Säulen, die sich hier befinden, könnten das Dach einer Kultstätte getragen haben, vielleicht ist es ein Tor gewesen. Für letzteres spricht die Tatsache, dass sich eine Wiese anschließt, die mit hohem Gras bewachsen ist. Direkt neben einer der schwarzen Jugendstilsäulen steht ein junger Typ, der perfekt eine Gustav Klimt Figur nachstellt. Vor allem seine Kopfbedeckung ist bemerkenswert. Als ob sie aus Stein wäre, sitzt sie eckig-grau auf dem Kopf des jungen Manns und ist von breiten Ornamenten durchzogen. Der junge Typ raucht nonchalant eine Zigarette und schnorrt Geld. Für einen Aschenbecher, wie er erklärt. Ich lehne bestimmt ab und weise darauf hin, dass er sich bis zum Erwerb des Aschenbechers schon etwas überlegen müsse, schliesslich steht er hier auf einer Wiese, oder? Er verweist auf einen selbstgebastelten Aschenbecher, der wie ein Nest aussieht. Ich folge dem Pfad, der sich durch die Wiese zieht und bald leicht bergauf führt. Der Weg wird von mehreren Leuten benutzt, er scheint die kürzeste Verbindung zum nächsten Viertel darzustellen, das hinter dem Hügel beginnt. Die Hausfrau, die mir bald begegnet, erklärt mir, dass die "Blumen", von denen im hohen Gras allerdings nichts zu sehen ist, eine notwendige Angelegenheit in so einer Stadt seien. Auf der Suche nach den Blumen gerate ich in eine Netzverbindung und vor mir eröffnet sich eine VR-Applikation.

Netzkunst, hm? Durch Vorwärtsbewegen scrolle ich an einer schwarzen Wand entlang, die sich nach oben endlos fortzusetzen scheint und nach einigen Metern im Obskuren verschwindet. Ihre Maserung ist ziemlich perfekt nach den Regeln von Fuzzy logic gearbeitet und sieht sehr alt aus. Nach vorne hin kann ich jeweils ein paar Meter im voraus immer neue Graffitis erkennen. Es sind erotische Zeichnungen, die in die Wand geritzt, gleichzeitig aber animiert sind. Vollbusige Pin-Ups, die aus wenigen Umrissen bestehen, bewegen sich zu imaginären Klängen. Eine virtuelle Peep-Show, die auf der Wand an mir vorbeizieht. Plötzlich dringen Alarmtöne herein. Ich werde gerufen. Ah, le telephone sonne.
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