Die Dinge des Lebens.
To rococo rots Album "The Amateur View."

Ulrich Gutmair


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Bäume sind schön. Schon allein, weil sie zur faszinierenden Welt sich selbstorganisierender Materie gehören. Bäume stehen in der Gegend rum, und nun kann man versuchen, sich so einem Baum zu nähern und zu verstehen, was ein Baum eigentlich IST. Im Zuge dieser Annäherung kommt man nicht umhin zu erkennen, daß Bäume sich in einem relativ langsameren Verhältnis zu ihrer Umwelt befinden als ein durchschnittlicher Metropolenbewohner. Der sitzt im Laufe seiner Sozialisation in abgedunkelten Klassenzimmern und sieht sich Filme der FWU an. Biologiefilme, in denen mittels Zeitraffer die Baumzeit der Menschenzeit angeglichen wird. "Natürlich" zoomen sich solche Filme auch in andere Naturphänomene hinein., "Natur" selbstverständlich immer in Anführungszeichen gesetzt. Da kann man Blutkörperchen sehen, die durch Adern pulsieren. Oder man folgt einer Katheterkamera, die rückwärts einer Spermaflutwelle durch den Harnleiter davoneilt.

Wenn man sich nachts, alleine im Bett, die neue torococo rot LP "the amateur view" anhört, meint man einen Soundtrack zu hören für eben solche Mikroereignisse. Interagierende Moleküle, Orgonblitze aussendende Zellkerne, wachsende Blätter, fließendes Blut. Ineinander verzahnte Frequenzen und Rhythmen, wie sie in Säugetierkörpern vorkommen.

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Wir hören im Augenblick "green" und wir sehen das Grün des Parks in Blow Up. Wir erinnern uns an das Grün der Gräser in der Eingangssequenz von David Lynchs "Blue Velvet". Der mikroskopische Blick Lynchs auf Grashalme und herumkrabbelndes Getier führt laut Slavoj Zizek jene grauenhafte, objektive Realität vor, die wir dank der symbolischen Ordnung höchstens für Bruchteile von Sekunden sehen können. Denn schon schalten sich sich die barmherzigen Filter intersubjektiv abgesicherter Interpretationen zwischen das Reale und unser Bewußtsein. Reales Grün wird durch ein Zeichengrün überdeckt. Auch auf dem Cover von "the amateur view" präsentiert sich die Welt des Organischen. Fünf Tulpen recken sich dem Besucher entgegen, als wollten sie "hallo!" sagen. "Hallo, wie ist es denn so bei euch?" Sie stecken in einer Vase und sehen eigentlich gar nicht aus wie echte Tulpen. Sie sehen eher aus wie Tulpen, die künstlich nachbearbeitet wurden, vielleicht sogar wie Tulpen aus dem Gen-Labor des Schönen.

Ähnlich verhält sich die Musik auf "the amateur view": Man kann diese Tracks als kleine akustische Maschinen verstehen, die auf rythmischer Ebene organische Prozesse nachstellen. Man darf im weitesten Sinne an Robert Hoods "Internal Empire" und also an Techno denken. Gleichzeitig sind diese Stücke aber auch Popsongs, der Plattentitel "amateur view" stößt einen ja auch mit der Nase drauf. Popsongs, ja, die allerdings äusserst zurückhaltend mit Referenzen und Codes operieren. Es gibt hier musikalische Strophen und Refrains und es gibt Melodien. Die Signale, die auf diese Weise moduliert werden, scheinen auf der Schwelle zu Sprache zu stehen. Oder umgekehrt formuliert werden Verweise, Zitate und Codes soweit abstrahiert, dass sie kaum als solche wiedererkannt werden können. Eine merkwürdig schöne und bunte Grauzone ist das.

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Alltäglich ist das Stichwort für den Gebrauch von Technologie durch to rococo rot. Schon deswegen ist die Frage nach der Technik eine, die man nicht allzu hoch gehängt wissen will: Trotzdem wissen to rococo rot ganz genau und äusserst differenziert, warum, wie und mit welcher Absicht Technik verwendet wird. To rococo rot finden sich wieder in einer Welt....

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Die auf "amateur view" versammelten Stücke sprechen nicht nur durch ihre Sounds, sondern auch in ihren Titeln. "i am in the world with you." "a little asphalt here and there", ein Stück übrigens, an dem der New Yorker Cut-Up Skratchadeliker I-Sound mitgearbeitet hat. Aber weiter im Text: "she loves animals." "die dinge des lebens."

Die Dinge des Lebens, von denen hier gesprochen wird, sind kleine, unscheinbare Gesten, ein kurzer Blickkontakt. To rococo rot nehmen dich wirklich "mit in den Alltag". Eine Kaffeetasse wie aus der Küchenszene von Tarantinos "Jackie Brown": Der Schrank geht auf, und Jackie nimmt eine dezidierte, eine präzise als genau sie selbst erkennbare Tasse aus dem Schrank. Wenn man sagen wollen würde, wie sich die to rococo rot Idee von Pop von der semiotisch fundierten 80er Jahre Vorstellung von Pop unterscheidet, wäre wohl genau das dieser Unterschied zwischen groß angelegten, symbolischen Gesten, die sich hinter vermeintlich alltäglichen Geschichten verbergen, sagen wir in Down by Law oder She’s gotta have it, und tatsächlich alltäglichen, kleinen und unscheinbaren Handlungen, die eine ganz andere Ebene von Wirklichkeit und Alltagsleben vermitteln. "this sandy piece." "a little asphalt here and there."

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Natürlich ist das Sprache, natürlich wird da etwas gesagt, auch ohne Texte. Und natürlich ist es hanebüchen zu behaupten, to rococo rot sei etwa die Massenarbeitslosigkeit egal, nur weil sie instrumentale Musik machen. Sowas wird tatsächlich von instrumentaler elektronischer Musik behauptet.... Aber wie heißt es so schön auf dem Innencover: Dinge aufschreiben ohne Schriftsteller zu sein...

to rococo rot: the amateur view. (city slang)

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